In Zeiten der Pandemie ist das Telefonieren wichtiger denn je.

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Im Jahr 1854 führte der Italiener Antonio Meucci das erste Telefonat. Seine Frau befand sich in Selbstisolation, sie konnte wegen Rheumas ihr Zimmer nicht verlassen. Der Erfinder Meucci wollte aber auch von seinem Büro aus mit ihr in Verbindung bleiben. Dafür nützte er sein Gerät namens Telettrofono. Es entstand sieben Jahre, bevor der Deutsche Philipp Reis sein Telephon vorstellte und 22 Jahre, bevor der gebürtige Schotte und US-Amerikaner Alexander G. Bell einen ähnlichen Apparat zum Patent anmeldete. Der glücklose Meucci konnte sich die Patentgebühren nicht leisten und wurde von Western Union auch noch um seine Entwürfe betrogen. Seither gilt Bell als Erfinder des Telefons.

Neulich erreichten wir Meucci, der 1889 als verarmter Mann in New York starb, auf dem Friedhof in Staten Island und stellten dabei fest, dass das Telefonieren selbst mit einem toten Italiener unterhaltsamer ist als mit einem schottischen Abstauber:

Meucci: Pronto!

STANDARD: Hallo, Herr Meucci. Schön, Sie am Apparat zu haben, auch wenn ich den Eindruck habe, dass Ihnen die Bedeutung Ihrer Erfindung nie ganz klar geworden ist.

Meucci: Das dürfte auch bei Philipp Reis der Fall gewesen sein. Oder wie erklären Sie sich sonst den seltsamen ersten Satz, den er damals in sein Telephon sagte: "Das Pferd frisst keinen Gurkensalat."

STANDARD: Aber kann es nicht sein, dass es gar nicht so sehr darum geht, was wir am Telefon sagen, sondern dass wir überhaupt miteinander in Kontakt bleiben können?

Meucci: Da mögen Sie recht haben. Meine Frau und ich hatten uns wenig zu sagen, trotzdem blieb ich ihr immer verbunden: Ich sagte ihr jeden Tag aus der Werkstatt fernmündlich Ciao Bella. Die Arme lebte völlig isoliert in ihrem Zimmer.

STANDARD: Sie werden es nicht glauben, gerade geht es fast der gesamten Welt so wie Ihrer Frau. Das Leiden heißt nicht Rheuma, sondern Corona – aber jeder sitzt nur zu Hause herum und kann kaum raus.

Meucci: Telefoniert ihr wenigstens?

STANDARD: Wie verrückt! T-Mobile, eine Art Western Union unserer Zeit, hat ausgerechnet: In der Corona-Krise wird um 80 Prozent mehr telefoniert als vorher. Alleine in Österreich werden täglich 112 Millionen Minuten über die Apparate geplaudert.

Meucci: Mamma mia! So viel wurde nicht einmal bei mir daheim in Firenze nach dem Kirchgang geredet. Ich hoffe, es sind anregende Gespräche.

STANDARD: Das kann ich nicht sagen. Man redet halt mit Mama, Papa und den Amici, die man jetzt nicht treffen kann. Der Psychologe Daniel Kahneman behauptet, dass wir ungefähr 80 Prozent unserer wachen Zeit mit anderen Menschen verbringen. Das fällt derzeit vielfach flach.

Meucci: Psychologie? Davon habe ich gehört. Scipio Sighele, ein Landsmann von mir und Vertreter der Massenpsychologie, behauptete zu meinen Lebzeiten, dass ganze Nationen durchdrehen. Angeblich sei die Spinnerei sogar ansteckend.

STANDARD: Vermutlich ansteckender als Corona. Aber auch das Telefonieren selbst ist Psychologie geworden – oder vielmehr Therapie. Dazu meint der Psychologe Jürgen Margraf, dass sich extrovertierte Menschen derzeit leichter selbst therapieren können. Sie pflegen soziale Kontakte weiter übers Telefon. Introvertierte Menschen haben es dagegen gerade schwer. Hatten Sie denn keine Angst vor Ihrem allerersten Telefonat?

Meucci: Angst vor Conversazione? Die kann ich als Italiener nicht nachvollziehen. Ich fürchtete mich eher vor den Stromschlägen meines ersten Apparats.

STANDARD: Viele junge Menschen sprechen heute nicht mehr über das Telefon, das übrigens kleiner und tragbar geworden ist. Sie schreiben einander damit kurze Texte. Eine aktuelle US-Studie besagt, über 80 Prozent der 22- bis 37-Jährigen hätten sogar Angst vor dem Telefonieren. Nadine Wolf vom Uni-Klinikum Heidelberg hat dieses Verhalten als Telefonphobie diagnostiziert.

Meucci: Per amor di Dio, fürs Tippen ist doch schon die Schreibmaschine erfunden worden! Was kann man denn tun gegen diese eigenartige Phobie?

STANDARD: Wolf meint, man soll am besten einen Psychotherapeuten in seiner Praxis aufsuchen – oder ihn derzeit besser anrufen.

Meucci: Das wird sich ein gestander Telefonphobiker vermutlich nicht trauen.

STANDARD: Wohl wahr. Was ist Ihr Tipp?

Meucci: Ich hatte nie Angst, meine Frau anzurufen – jedes Glas Vino lockert die Zunge. Und ich habe mir in der Werkstatt immer ein paar nette Sätze für die Telefonate mit ihr notiert. Das hilft bestimmt auch gegen die Angst vorm Telefonieren. Sogar Psychologen von heute empfehlen das.

(Sascha Aumüller, 23.4.2020)

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