Auch in den Sälen des Landesgerichts für Strafsachen Wien werden Angeklagte teilweise per Videoübertragung aus der Untersuchungshaft zugeschaltet.

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Wien – Suchterkrankungen können sowohl Ursache als auch Folge zerstörter Leben sein. Der Prozess gegen Jennifer P. und Martin L. zeigt, dass die Trennlinie dabei nicht immer ganz klar zu ziehen ist. Die 19-jährige Arbeitslose und der 33-jährige Pensionist müssen sich wegen versuchter schwerer Körperverletzung vor einem Schöffengericht unter Vorsitz von Hannelore Bahr verantworten.

Für beide ist es beileibe nicht die erste Erfahrung mit dem Justizsystem: P. hat zwei Vor- und eine Zusatzstrafe, L. gleich elf Vorstrafen, sieben Jahre seines Lebens hat er im Gefängnis verbracht, wie die Vorsitzende betrübt feststellt.

Zum ersten Mal müssen die beiden aber nicht selbst im Verhandlungssaal anwesend sein: Wegen der Pandemiesorgen sind sie per Video aus der Untersuchungshaft in der benachbarten Justizanstalt Josefstadt zugeschaltet. Der Bildqualität nach könnten sie genauso gut im Krater Copernikus sitzen.

Rollerfahrer nachgelaufen und verprügelt

Der gravierendste Vorwurf: Am 21. November gingen P., L. und ein Freund gegen 22 Uhr mit dem Hund spazieren, als sie ein 53 Jahre alter Mann auf einem Tretroller passierte. Was genau L. veranlasste, ihm plötzlich nachzurennen, kann er heute nicht mehr sagen. Obwohl er nach eigenen Angaben den Heroinersatzstoff Substitol, beruhigende Benzodiazepine und Kokain im Blut hatte, war der Invaliditätspensionist flink genug, um dem Scooterfahrer nachzulaufen und ihn von seinem Gefährt zu stoßen.

Es folgten Schläge und Tritte gegen das auf dem Boden liegende Opfer, zu schlechter Letzt biss L. den Mann so heftig ins Ohr, dass eine Rissquetschwunde entstand, die genäht werden musste. P. war ebenfalls involviert: Sie schlug das Opfer mit dessen eigenem Tretroller. "Ich denke, ich wollte einfach mithalten", sagt die 19-Jährige zu ihrem Motiv.

Vorsitzende Bahr hält ihr allerdings eine elektronische Nachricht vor, die P. nach der Tat an ihre Mutter schickte: "Diese Schlägereien geben mir Frieden", stand dort zu lesen. "Ich wollte Aufmerksamkeit erregen, damit ich wieder nach Hause kann", lautet die Erklärung. Die in der Nachricht folgenden Gewaltfantasien habe sie bereits in ihrer Kindheit entwickelt.

Gewaltfantasien seit der Kindheit

Ihre Fantasien lebt sie ganz offensichtlich manchmal aus: Sie ist auch angeklagt, am 31. Oktober eine Passantin verprügelt zu haben, nachdem sie mit einem Kubotan – einem Metallstift, der auch als Nahkampfwaffe eingesetzt werden kann – ein parkendes Auto beschädigt hatte. Tags darauf schlug sie ihren Stiefvater und bedrohte ihn mit dem Umbringen.

"Ich hatte einen Rückfall und habe Substis i.v. genommen", sagt die Angeklagte bedauernd auf die Frage einer Schöffin. "Substitol intravenös", klärt Bahr die Laienrichterin auf. Auch bei der Sache mit dem Stiefvater sei sie noch unter dem Einfluss des Medikaments gestanden.

"Ich war fertig und habe mich selbst geschnitten. Meine Mutter hat gesagt, ich soll das Blut wegwischen, da bin ich ausgezuckt." Begründen kann sie ihren Zorn auf den Stiefvater nicht. "Er war immer nett zu mir. Ich glaube, ich habe es nie verkraftet, dass meine Eltern sich getrennt haben", mutmaßt die Angeklagte.

Nächster Schritt wäre Einweisung

Laut psychiatrischem Gutachten ist der Teenager nicht mehr weit von den Bedingungen für eine Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher entfernt. Die Untersuchungshaft seit November habe ihr aber die Augen geöffnet, beschwört sie den Senat. Sie wolle ihr Leben endlich auf die Reihe bekommen.

Das Gericht gibt ihr die Möglichkeit dazu: Sie wird zu 24 Monaten Haft, 16 davon bedingt, verurteilt. Zusätzlich erhält sie eine Reihe von Auflagen: Sie muss Bewährungshilfe annehmen, eine Drogenentzugs- und Psychotherapie machen, ein Anti-Gewalt-Training absolvieren und in eine betreute Wohnung ziehen. "Dann kann ich auf Therapie?", fragt P. aufgeregt. "Dann MÜSSEN Sie eine Therapie machen", erklärt ihr die Vorsitzende. "Danke! Danke! Danke!", schluchzt die Angeklagte.

L. muss dagegen zweieinhalb Jahre ins Gefängnis. "Wir haben hier keine Möglichkeit gesehen, Milde walten zu lassen", begründet Bahr. "Sie sind ein Rückfalltäter, der Strafrahmen wäre daher sogar bei siebeneinhalb Jahren gelegen." Für die Attacke auf den Rollerfahrer "gab es nicht einmal einen nichtigen Anlass. Es gab gar keinen Anlass", resümiert sie. (Michael Möseneder, 23.4.2020)