Auch am Flughafen im afghanischen Kabul wird das Personal unter strengen Sicherheitsvorkehrungen an Bord der WFP-Maschinen gebracht.

Foto: WFP/Jorge Diaz

Bettina Lüscher appelliert an die Geberländer, ihre zugesagten Spenden so schnell wie möglich freizugeben.

Foto: WFP

Die Zahl der hungerleidenden Menschen könnte sich durch die Krise im Zusammenhang mit dem Coronavirus bis Ende des Jahres verdoppeln. Davor warnt das Wold Food Programme (WFP) der Vereinten Nationen. Die Hilfsorganisation ist die größte weltweit und in 83 Ländern aktiv. Insgesamt 87 Millionen Menschen profitieren im Moment von der Hilfe der Einrichtung, die auch für die Logistik der gesamten humanitären Hilfe zuständig ist, wie Hauptsprecherin Bettina Lüscher erzählt.

STANDARD: Kriege, Naturkatastrophen, schlechte Regierungsführung – und nun die Coronavirus-Pandemie. Gibt es noch einen Weg, um den Welthunger auszulöschen?

Bettina Lüscher: Die Lage ist katastrophal. Wir hätten heuer sowieso schon mehr als 100 Millionen Menschen mit Nahrungsmitteln oder Bargeldhilfen versorgen müssen. Diese Zahl ist in den vergangenen Jahren bereits angestiegen, und nun kommt das Coronavirus obendrauf. Wir befürchten, dass bis Ende des Jahres eine Viertelmilliarde Menschen akuten Hunger leiden könnten – also vom Hungertod betroffen sein werden. Was wir hier sehen, ist eine Krise auf einer Krise.

STANDARD: Was muss passieren, um akut helfen zu können?

Lüscher: Zunächst einmal brauchen wir die Gelder, um in den nächsten drei Monaten jene Menschen zu versorgen, die wir sowieso versorgt hätten. Um denen Nahrungsmittel zu bringen, benötigen wir rund 1,9 Milliarden Euro. Wenn das nicht klappt, könnten hunderttausende Menschen täglich sterben. Wir haben die Geberländer gebeten, ihre bereits zugesagten Hilfen für heuer jetzt schnell auszuzahlen, damit wir so schnell wie möglich helfen können, bevor noch mehr Grenzen geschlossen sind. Außerdem sind wir für die gesamte Logistik für die Vereinten Nationen verantwortlich und dabei, Flugzeuge, Frachtschiffe und Lkws zu chartern – um Helfer und Hilfsmaterial und medizinische Güter auf der Welt zu verteilen, wo es nötig ist. Vor allem in Afrika. Um vor allem Menschen in die betroffenen Regionen zu bringen, starten wir einen Flugservice von Genf, wo die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und das Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) sitzen, über Rom, wo etwa das Welternährungsprogramm sitzt, nach Ost- und dann nach Westafrika. Wir sind gerade das logistische Rückgrat der gesamten humanitären Organisationen. Wenn wir das nicht stemmen, dann kracht das humanitäre System zusammen.

STANDARD: Was bräuchte es, damit das nicht passiert?

Lüscher: Vor etwa zwei Wochen haben wir als Teil des Uno-Appells um 350 Millionen US-Dollar gebeten, damit wir Flugzeuge und Schiffe chartern können, um Masken und Beatmungsgeräte einzufliegen und Feldlazarette aufzubauen. Von der Summe ist aber erst ein Viertel da. Wir brauchen es in der nächste Woche. Außerdem müssen die politischen Entscheidungsträger sicherstellen, dass die Grenzen für kommerzielle Fracht offen bleiben.

STANDARD: Sie haben erwähnt, dass das WFP auch das logistische Rückgrat der humanitären Hilfe ist. Was bedeutet das neben Transportarbeit?

Lüscher: Im Auftrag der Vereinten Nationen organisieren wir Nothilfedepots. Dort ist alles gelagert, damit man schnell in einer Krise eingreifen kann. Dieses Netz bauen wir aus: In Belgien und China werden neue Zentren etabliert, und wir bauen bestehende Zentren, etwa in Dubai, aus. Damit stellen wir sicher, dass Waren von A nach B kommen, die sonst steckenbleiben würden. Alles, damit die Maschine weitertickt. Das ist eine riesige Aufgabe, die es so noch nicht gegeben hat.

STANDARD: Sind das kurz- oder längerfristige Lösungen?

Lüscher: Wir wissen gar nicht, wie lange die Corona-Krise dauern wird. Die kann noch Jahre andauern. Das ist das Schlimme daran. Die wirtschaftlichen Konsequenzen können zu mehr Toten führen als das Virus selbst. Das ist die große Sorge, dass durch die wirtschaftlichen Konsequenzen die Menschen mehr Hunger leiden und in Armut schlittern. Die 30 Millionen Menschen, um die wir uns gerade die größten Sorgen machen, leben entweder in Flüchtlingslagern, in Kriegsgebieten oder befinden sich auf der Flucht. Für diese Menschen ist das Virus nur eine Katastrophe nach vielen anderen Katastrophen.

STANDARD: Mit der Arbeit des WFP verbunden sind vor allem die weißen Getreidesäcke in afrikanischen Länder. Ist das noch ein adäquates Bild?

Lüscher: Einerseits machen wir klassische Nahrungsmittelhilfe, aber wo es geht, setzen wir auf Gutscheine oder Debit-Karten, um lokale Märkte und Wirtschaft vor Ort zu stützen. Wir kaufen auch viel von Bauern vor Ort und betreiben etwa Schulspeisungsprogramme. In einem afrikanischen oder lateinamerikanischen Land ist die Schulspeisung für die Kinder oft die einzig garantierte gesunde Mahlzeit pro Tag. Das WFP versorgt etwa zwölf Millionen Kinder, die diese Mahlzeit durch die Corona-Maßnahmen nicht mehr bekommen. Deshalb erhalten die Familien derweil im Fall von Schulschließungen Lebensmittelhilfen für einen längeren Zeitraum. Dadurch soll sichergestellt werden, dass die Entwicklung der Kinder nicht zu stark leidet.

STANDARD: Gab es bereits andere Krisen, auf deren Erfahrungswerte das WFP nun zurückgreifen kann?

Lüscher: Aus der Ebola-Krise haben wir ganz viel gelernt. Dabei haben wir bereits mit der WHO und anderen medizinischen Hilfsorganisationen zusammengearbeitet. Unsere Ingenieure haben Behandlungszentren aufgebaut. Wir haben gelernt, wie man mit so extrem ansteckenden Krankheiten umgeht, um in der Folge sowohl die Bevölkerung als auch die Helfer zu schützen. Auch damals wurde der Flugverkehr stark eingeschränkt, und das WFP ist mit dem humanitären UN-Flugdienst eingesprungen. Wir haben nun aber eine globale Krise, die uns alle betrifft – mit einem unsichtbaren Feind. Normalerweise arbeiten wir aber in Gebieten mit einem sichtbaren Feind wie Bewaffneten oder Naturkatastrophen. Und auch, wenn wir alle gleich von dem Virus betroffen sind, ist es meiner Meinung nach nicht der große Gleichmacher, denn die medizinische Versorgung ist weltweit zu unterschiedlich.

STANDARD: Werden die Spendengelder fließen?

Lüscher: Ich bin optimistisch und hoffnungsvoll, dass das WFP die Gelder erhält und wir die Herausforderung schaffen. Aber wie mein Chef, David Beasley, vor dem UN-Sicherheitsrat bereits gesagt hat: Es drohen drei Dutzend akute Hungersnöte. Das darf nicht passieren. Es gibt genug Geld und Expertise auf der Welt. (Bianca Blei, 27.4.2020)