Kay Voges ist Mitgründer der Akademie für Theater und Digitalität in Dortmund und Volkstheaterdirektor aber der Spielzeit 2020/21.

APA/Herbert Neubauer

Choreografin Daphna Horenczyk befasst sich in "Diorama: stories" (ab September) mit der Manipulierbarkeit von Realität.

Franzi Kreis

Ohne Streaming geht im Theater derzeit gar nichts. Das ist in Woche sieben der Vorstellungsabsagen die bittere Realität. Und wenn die Bedingungen für die Probenarbeit absehbar nicht gelockert werden, so könnte uns dieser ungewöhnliche Rezeptionsmodus – isoliert vor dem Bildschirm – noch bis weit in den Herbst hinein erhalten bleiben.

Theater ist seit immer und ewig eine Livekunst, bei der sich Künstler und Publikum gemeinsam Raum und Zeit teilen. Kann denn das Streamen – die digitale Übertragung von Video- und Audiodaten – überhaupt Theater sein? Niemals, rufen Analog-Aficionados. Der Anglizismus Streamen ist auf dem besten Weg dazu, auch am Theater ein Reizwort zu werden. Dabei gibt es die Praxis, Theater und Performances auch in gestreamter Form zu rezipieren, schon seit geraumer Zeit. Der Tatbestand des Theaters ist nämlich erfüllt, wenn sich, wie derzeit schon oft geschehen, Publikum im virtuellen Raum "trifft" und dort "gemeinsam" einem Liveschauspiel beiwohnt. Zeit und Raum sind dann ja eins.

Für einen Großteil des Publikums ist diese Form der Bühnenkunst aber marginal, und selbstverständlich wird sie das herkömmliche Theater und die ihm wesensimmanente Gemeinschaftlichkeit in der wirklichen Welt auch nicht ablösen. Virtuelle Rezeptionsformen könnten aber nun – befeuert durch die Corona-Lage – im Theaterbetrieb noch intensiver Fuß fassen.

Abgefilmtes Theater

Bereits im Jahre Schnee, 1993, als viele von uns noch gar keinen Computer hatten, realisierte die britisch-amerikanische Gruppe The Hamnet Players ihre erste Cyberperformance. Das war Pionierarbeit; vielen Gruppen war nur eine kurze Lebensdauer beschieden, etwa auch dem Desktop-Theater, das Interaktion vor allem über Chats anstieß. Bis heute aktiv ist die Plattform Upstage, die Remote-Theater weltweit zusammenführt. Sie alle versuchten, Publikum über das Netz in ein Live-Ereignis zu involvieren. Kein Theater aber ist es, aufgezeichnete Aufführungen ins Netz zu stellen, wie es derzeit viele Bühnen und Gruppen in der Not machen.

"Erst wo Interaktion stattfindet, beginnt das Theater", definiert es Kay Voges. Der künftige Volkstheater-Direktor und Mitgründer der in Dortmund angesiedelten Akademie für Theater und Digitalität, klärt über diesen häufigen Irrtum auf dem Streamingsektor auf. Aufgezeichnete Aufführungen haben rein dokumentarischen Charakter und sind in Zeiten wie diesen auch nicht zu verschmähen, etwa die heute Abend auf der Website der Berliner Schaubühne laufende Hölderlin-Inszenierung Winterreise im Olympiastadion von Klaus Michael Grüber aus dem Jahr 1977.

Vereinzelt entwickeln Theatermacher derzeit in Windeseile spezielle Formate fürs Web, um Kontakt zum Publikum zu halten. Zum Beispiel der Regisseur Christopher Rüping in Zürich, der Krzysztof Kieslowskis Dekalog online neu adaptiert. Oder Philipp Preuss, der am Schauspiel Leipzig das Internetprojekt k. nach Frank Kafka entwickelt. Hier zeigt sich, dass technologische Kompetenzen wichtiger sind denn je. Viele Theater hätten bisher die digitale Wirklichkeit "verschlafen", meint Voges, dessen Akademie Forschung und Lehre verbindet.

Neue Erzählweisen

Er plädiert dafür, dass "mit größerer Selbstverständlichkeit Videokünstler und Programmierer in Theaterteams integriert werden". Das würde nicht nur die Streamings verbessern, sondern auch neue Erzählweisen auf der Bühne ermöglichen, die unser in eine digitale Welt eingesponnenes Leben besser abbilden könnten.

Seit Jahren beschäftigt sich bereits die Choreografin Daphna Horenczyk mit den Grenzen zwischen realer und virtueller Welt. Ihre neue Arbeit Diorama: stories, in der Live- und Onlinepublikum getrennt beliefert werden, soll, so der Plan, im September im Brut (Spielstätte Wuk) Uraufführung haben. Sie thematisiert die Manipulierbarkeit von Realität.

Theater in digitaler Form ist machbar, stößt aber immer an Grenzen. Das räumt auch Akademiechef Voges ein. Nichts könne das physische Näheerlebnis im Theater ersetzen. Denn selbst auf noch so hoch entwickelten Apps bleiben wir einander fern. Kontakt von Angesicht zu Angesicht ist dort bekanntlich nicht möglich. (Margarete Affenzeller, 24.4.2020)