Polizisten, die im Auftrag der Stadtverwaltung von Tür zu Tür gehen und Lebensmittelgutscheine verteilen; lange Schlangen vor den Sozialämtern; Suppenküchen, die immer mehr Zulauf erhalten; Hilfsorganisationen, die in immer dringlicheren Appellen um Sach- und Geldspenden bitten; Personen – nicht nur Obdachlose –, die in die von vielen Balkonen in den Städten hängenden "sozialen Körbe" greifen, weil sie auf diese kleinen Lebensmittelspenden ihrer Mitmenschen angewiesen sind: Italien hat noch nicht einmal die durch die Corona-Pandemie ausgelöste Gesundheitskrise bewältigt – und schon schlägt die soziale Krise mit großer Wucht zu.

"Mailand hilft": Freiwillige Helfer verteilen von der Gemeinde gespendete Nahrungsmittel an bedürftige Mitbürger.
Foto: EPA / Andrea Fasani

Das auf Wirtschaftsanalysen spezialisierte Blog lavoce.info des renommierten Mailänder Ökonomen Tito Boeri rechnet mit einer unmittelbaren und massiven Verschärfung der persönlichen Lebensumstände zahlreicher Italienerinnen und Italiener: Rund zehn Millionen Personen – das ist fast ein Fünftel aller erwachsenen Erwerbsfähigen im Belpaese – droht neuesten Studien zufolge das Abgleiten unter die Armutsgrenze. Diese Menschen laufen Gefahr, nicht mehr selbst für ihre Lebenserhaltungskosten aufkommen zu können: Lebensmittel, Medikamente, Strom- und Gasrechnungen, Mieten oder Kreditrückzahlungen.

Salvatore Morelli von der Universität Federico II. in Neapel errechnete für das Info-Portal, dass solche armutsgefährdeten Menschen über weniger als 900 Euro an Ersparnissen verfügen; damit können laufende Kosten über mehrere Monate nicht beglichen werden, schon gar nicht in Zeiten des Crononavirus-bedingten Lockdowns.

Düstere Statistiken

Während die Italiener in vergangenen Jahren noch rund acht Prozent ihres Gehalts für Spar- und Notzwecke zur Seite legen konnten, sei diese Quote nun auf rund 2,5 Prozent gesunken. Schon jetzt zählt das italienische Statistikamt ISTAT bei 60,4 Millionen Einwohnern rund 9,3 Millionen Arme im Land – von ihnen bezieht rund ein Drittel ein staatliches Mindesteinkommen. Weitere 18 Millionen Italiener waren laut Statistikamt schon vor der Corona-Krise in schwierigen Situationen.

Verschärft wird die Lage durch die Tatsache, dass landesweit mindestens drei Millionen Arbeitnehmer nach Schätzungen des Kleinunternehmerverbandes CGIA ihr Einkommen aus Schwarzarbeit beziehen. Hier gibt es, verliert man den Job, natürlich keinerlei soziale Auffangnetze.

Die Tageszeitung La Repubblica zitiert in diesem Zusammenhang Roberto Rossini, Präsident von ACLI, einer katholischen Laienbewegung und Arbeitervereinigung: Seit Wochen gebe es im ganzen Land eine starke Nachfrage nach Lebensmittelgutscheinen. Man dürfe die Coronavirus-Krise nicht unterschätzen, sie werde ein historischer Einschnitt im Sozialleben Italiens sein.

"Lawine struktureller Armut"

"Die aktuelle Einkommensarmut darf nicht zu einer Lawine struktureller Armut werden", warnt Rossini. Er fordert die italienische Regierung auf, die Bedingungen für den Bezug des Mindesteinkommens zu lockern, damit noch weitere 500.000 Familien finanzielle Unterstützung erhalten können.

Ministerpräsident Giuseppe Conte hört solche Appelle schon seit Wochen, sie kommen auch von Think Tanks zweier ehemaliger Fachminister: Enrico Giovannini aus dem sozialdemokratischen Kabinett von Enrico Letta 2013/14 und Fabrizio Barca, der von 2011 bis 2013 der Expertenregierung Mario Montis angehörte. "Diese Krise wird die Armut in allen Dimensionen verstärken", warnt Giovannini. Es gehe nicht nur darum, dass viele aktuell keine laufenden Rechnungen bezahlen können; es drohe vielmehr ein großflächiger Einkommensverlust für viel mehr Menschen, weil ihre Arbeitgeber die Geschäftsaktivität beenden müssen.

Millionen neuer Arbeitsloser?

Giovanninis Kollege Barca drückt sich in der Repubblica konkreter – und dramatischer – aus: Bis zu einem Drittel der kleinen und mittleren Unternehmen, die bereits vor der Corona-Krise mit Existenzproblemen zu kämpfen hatten, dürften nicht überleben. Die Folge: Sechs bis sieben Millionen weitere Arbeitslose.

Barca regt ein Grundeinkommen speziell für die Betroffenen der Corona-Krise an. Und um weitere Pleite- und Kündigungswellen zu vermeiden, müsse die Regierung darüber nachdenken, wie man den Sozialfaktor Arbeit fairer verteilen könnte: Wenn der Einzelne weniger arbeite, könnten eventuell alle arbeiten. Mit anderen Worten: Kurzarbeit als soziales Dauerprovisorium? (Gianluca Wallisch, 24.4.2020)