In nur zwei Monaten schuf Hilma af Klint die Bildserie "Die zehn Größten" (1907). Insgesamt: achtzig Quadratmeter Bildfläche.
Foto: Stiftelsen Hilma af Klints Verk / Albin Dahlström

Vor zwei Jahren richtete das Guggenheim-Museum in New York Hilma af Klint eine Retrospektive aus, die alle Besucherrekorde brach: Die meterhohen Gemälde der Künstlerin mit den geheimnisvoll-abstrakten Mustern lockten mehr als 600.000 Menschen an, und die bis dahin wenig bekannte schwedische Malerin geriet plötzlich ins Scheinwerferlicht der Kunstwelt.

Die New York Times titelte: ",Hilma Who?‘ No More!", ihre Werke wurden 75 Jahre nach ihrem Tod in Sammlungen und ihr Name in die Reihen der Größen abstrakter Malerei aufgenommen. Jahrelang war die 1862 bei Stockholm geborene Künstlerin, von der 1300 Gemälde und mehr als 26.000 Seiten Text erhalten sind, vergessen, heute wird sie endlich als Pionierin der abstrakten Malerei angesehen.

Wer war diese Frau?

Hilma af Klints Werke, die bereits 2013 durch Europa tourten, wurden als "bunte Diagramme" beschimpft und nicht in einer Liga mit Kandinsky oder Malewitsch gesehen. Dabei malte af Klint 1906 ihre ersten abstrakten Bilder – das war Jahre vor ihren männlichen Kollegen. Davor galt ein 1910 datierter Kandinsky als erstes abstraktes Bild. Mehr als 100 Jahre später trieb die Ausstellung Inventing Abstraction im New Yorker MoMA diese Lücke im Kunstkanon auf die Spitze: Hilma af Klint wurde dort nicht einmal am Rande erwähnt. Die Forderung kam prompt: "Die Kunstgeschichte muss umgeschrieben werden" – und das wurde sie auch.

Maßgeblich an dieser Aufarbeitung beteiligt war die Kunsthistorikerin und ehemalige FAZ-Redakteurin Julia Voss mit der ersten Biografie über Hilma af Klint, die dieses Jahr im S.-Fischer-Verlag erschien. Voss entdeckte die lückenhafte Forschung zur Künstlerin, lernte Schwedisch und machte das Projekt zu ihrer Hauptbeschäftigung. Mit der umfassenden und fast 600-seitigen Biografie widerlegt sie falsche Behauptungen über die Künstlerin und stößt eine Diskussion über den Kunstkanon an, in dem weibliche Künstlerinnen oft ignoriert wurden: "Hilma af Klint ist die bedeutendste Wiederentdeckung in der modernen Kunstgeschichte."

Af Klint erhielt Botschaften von höheren Wesen: Plötzlich malte sie abstrakt.
©Zeitgeist Films / Everett Colle

Die Schwedin besuchte die Königliche Kunstakademie in Stockholm, beschäftigte sich mit Naturwissenschaften, malte anfänglich naturalistisch und schuf wie aus dem Nichts abstrakte Bilder. Kollegen wie Kandinsky – mit dem sie später zeitgleich auf der Baltischen Ausstellung in Malmö gezeigt wurde – näherten sich erst zaghaft gegenstandslosen Inhalten.

Für die 1906 entstandene Serie Urchaos "gibt es keine Vorbilder in der Kunstgeschichte, nicht bei den Alten Meistern und auch nicht bei den modernen Zeitgenossen", schreibt Voss. Ende des 19. Jahrhunderts nahm af Klint an spirituellen Sitzungen (Séancen) teil, schloss sich später den Theosophen an und hatte intensiven Kontakt zum Esoteriker Rudolf Steiner. Ihren Aufzeichnungen zufolge erhielt die Künstlerin Botschaften von höheren Wesen, die Namen wie Amaliel oder Ananda trugen und ihr Anweisungen für Bildmotive gaben. Af Klint wollte so die Wahrheit hinter dem von uns Sichtbaren zeigen. Dass sie sich allerdings rein als "passives Werkzeug" begriff, stimme nicht, klärt Voss auf. Zwar schreibt af Klint "die Bilder sind direkt durch mich hindurch gemalt worden", dies geschah jedoch in "Form eines Dialogs".

Die Anfang März in Deutschland erschienene Dokumentation Jenseits des Sichtbaren von Halina Dyrschka (Kinostart in Österreich verschoben) macht deutlich, wie wenig Hilma af Klint den damaligen Konventionen entsprach: Sie lebte in einer Beziehung mit einer Frau, irritierte mit ihrer Kunst und bezeichnete sich als spirituelles Medium. Letzteres war oft der Grund, wieso sie im Kunstbetrieb nicht ernst genommen wurde – sie galt als "umstritten". Sowohl die Biografie als auch die Dokumentation geben Einblick in diese spirituelle Welt, stellen aber das künstlerische Können af Klints ins Zentrum. Der Tenor: Sie war anders und mutig – und ein Genie.

Die Anfang März in Deutschland erschienene Dokumentation Jenseits des Sichtbaren von Halina Dyrschka wäre im Mai auch in Österreich angelaufen – jetzt muss der Kinostart verschoben werden.
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Ein Tempel für die Kunst

Af Klints Vorhaben manifestiert sich insbesondere in ihrer Bildserie Die zehn Größten. Leinwände so groß wie "Scheunentore" bemalte sie in kräftigen Farben, Spiralen und Kreisen. Eigentlich hätten die Werke in einem schneckenförmigen Tempel Platz finden sollen, ihr Plan wurde allerdings nie umgesetzt. Der Vergleich mit der gewundenen Architektur des Guggenheim scheint da jedoch etwas versöhnlich.

Verwunderlich ist, dass das malerische Œuvre af Klints fast vollständig überliefert wurde. Denn obwohl sie vor allem im Alter Geldnöte hatte, verkaufte sie kein einziges ihrer Bilder – das Werk musste zusammenbleiben. Nach ihrem Tod 1944 gingen alle ihre Arbeiten in den Besitz ihres Neffen Erik af Klint über.

Mehr als 20 Jahre lang lagerten sie auf dessen Dachboden – so hatte es af Klint gewollt. Mit dem Symbol "+x" markierte sie all jenes, von dem sie glaubte, erst die Nachwelt würde es akzeptieren. Sie ahnte, dass ihre Kunst erst von späteren Generationen verstanden werden würde. Auch wenn Jahre verspätet – sie sollte recht behalten. (Katharina Rustler, 25.4.2020)