Freiheitsbeschränkung kann viele Facetten haben: Das kann eine angezogene Rollstuhlbremse sein, eine verschlossene Tür oder eine Drohung.

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Seit 19. März hat Gerhard Neuwirth keinen Schritt mehr außerhalb des Heimgeländes gemacht. An dem Tag fuhr er noch mit dem Fahrrad zum Lainzer Tor, es folgte eine "sehr emotionale Debatte" mit dem Heimpersonal. Seitdem ist Neuwirth nicht mehr am Sicherheitsmann vorbei, der seit einigen Wochen vor dem Haus Neubau der Wiener Häuser zum Leben sitzt. "Wie im Gefängnis" fühle er sich, sagt er, und das, obwohl im Covid-19-Gesetz geregelt ist, dass Spaziergänge erlaubt sind. Neuwirth kennt es auswendig.

Dass manche Bewohnerinnen und Bewohner von Altersheimen nun anders behandelt werden als der Rest der Bevölkerung, stößt bei Kontrollbehörden auf Unverständnis. Und zwingt sie in ein Dilemma: Sie können nicht in die Heime, um Verstöße zu ahnden.

Volksanwaltschaft will wieder in die Heime

Die Volksanwaltschaft, deren Kommissionen im Rahmen der präventiven Menschenrechtskontrolle unangemeldet Pflege- und Pensionistenheime aufsuchen – und andere Orte, an denen Menschen in ihrer persönlichen Freiheit eingeschränkt werden –, hat diese Besuche in der Coronavirus-Krise bis auf weiteres eingestellt. Kritik daran kommt von Ernst Berger, Kinderpsychiater und Leiter einer Volksanwaltschaft-Besuchskommission von 2012 bis 2018.

"Die Wiederaufnahme dieser Besuche unter entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen ist dringlich", sagt Berger im STANDARD-Gespräch. Besonders in Einrichtungen mit akutem Personalmangel sei das Risiko groß, dass die Bewohner durch "technische oder mechanische Lösungen" in ihrer Freiheit beschnitten werden – etwa mittels Abmontierens von Türschnallen.

Man wolle die persönlichen Kontrollen bald wiederaufnehmen, heißt es von Volksanwalt Bernhard Achitz gegenüber dem STANDARD. Laufend kämen Beschwerden, in denen kritisiert wird, dass Heimbewohner nicht hinausdürfen. Das sei "rechtlich nicht gedeckt", sagt Achitz. Man müsse also entweder "eine Rechtsgrundlage schaffen, die man dann auf ihre Verhältnismäßigkeit überprüft, oder eine Möglichkeit, dass sie sich frei bewegen können".

Außerdem habe man schon am 8. April in einem Schreiben an das Gesundheitsminsterium um Instruktionen gebeten, wie Kontrollen künftig sicher stattfinden können. Beim Ministerium bestätigt man, dass ein Schreiben ankam, man sei mit der Volksanwaltschaft in Kontakt.

Richterliche Prüfung

Am Freitag wurde die erste freiheitsbeschränkende Maßnahme während der Coronavirus-Krise vor Gericht behandelt. Michael Hufnagl vom Vertretungsnetz in Wien stellte den Antrag auf Überprüfung. Ein Heimbewohner wurde nach einem Krankenhausaufenthalt bei seiner Rückkehr trotz negativen Corona-Tests zwei Wochen isoliert, das hätte, so Hufnagl, die Heimleitung melden müssen. Wie die Verhandlung ausging, ist bislang offen.

Wenn alte Menschen zu ihrem Schutz und dem ihrer Mitbewohner in ihrer Freiheit beschränkt werden, ist stets das gelindere Mittel zu bevorzugen, so steht es im Heimaufenthaltsgesetz. Dass das nicht immer angewandt wird, ist nicht nur in Wiener Heimen ein Problem. Bewohnervertreter aus dem ganzen Land erzählen dem STANDARD von ihrem neuen Arbeitsalltag.

So sagt etwa Christian Bürger vom Niederösterreichischen Landesverein für Erwachsenenschutz, die Meldungen von Freiheitsbeschränkungen würden abnehmen: Nachdem keine Kontrollen vor Ort stattfinden, "gibt es niemanden, der Druck erzeugt und permanent nachfragt". Jetzt, wo seit acht Wochen niemand mehr ein Heim beteten hat, "weder eine Aufsichtsbehörde noch eine Bewohnervertretung", sei es notwendig, das wieder zu normalisieren. Doch auch wenn man wieder in die Heime gehe, so Bürger, habe er die Sorge, dass Bewohnervertretern in manchen Einrichtungen mit dem Argument der Sicherheit der Zutritt verwehrt wird.

In Salzburg sagt Christian Berger vom Verein Erwachsenenvertretung, man "gehe von einer ganz hohen Dunkelziffer" aus, "es wird unserer Einschätzung nach gerade zu mehr Zwang kommen". Auch bestehende Beschränkungen, die es schon vor der Krise gab – Medikamente oder Fixierungen –, würden nicht mehr auf dem bisherigen Niveau gemeldet werden.

Auch in Vorarlberg spricht Herbert Spiess, Leiter der dortigen Bewohnervertretung, davon, es sei "mühsam und unbefriedigend", dass man nicht persönlich kontrollieren könne, es gebe aber auch Positivbeispiele: "Aus Telefonaten bekomme ich mit, dass Bewohner mit einem Sicherheitsabstand verfolgt werden oder von Betreuern begleitet werden", sagt Spiess. Sämtliche Vertretungsnetzwerke gehen davon aus, bis spätestens Mitte Mai unter besonderen Schutzvorkehrungen wieder zu kontrollieren.

Quarantäne oder Test

Vom Kuratorium Wiener Pensionisten-Wohnhäuser, das jenes Seniorenwohnheim betreut, in dem Gerhard Neuwirth mehr oder minder festsitzt, heißt es, Bewohner könnten das Gelände nur dann verlassen, wenn sie danach einen negativen Corona-Test mitbringen oder 14 Tage in Quarantäne gehen. Ob das so bleibt, sei, so ein Sprecher, aber unklar, man arbeite derzeit an Lösungen.

Für Neuwirth kommt ein Test "nicht infrage", sagt er, immerhin kostet dieser über 100 Euro. Doch sobald er wieder hinein- und hinausdarf, wann er will, wird er mit der Straßenbahn Richtung Wienerwald fahren – so wie an jedem normalen Tag. (Gabriele Scherndl, Irene Brickner, 25.4.2020)