"Chinas Regierung hat die Welt über Gefahr und Übertragbarkeit des Coronavirus belogen, Whistleblower zum Schweigen gebracht und wenig getan, um die Ausbreitung zu verhindern. Sie muss für ihr Handeln zur Verantwortung gezogen werden!" So steht es in einer Anklageschrift, die Mitte der Woche der republikanische Justizminister im US-Bundesstaat Missouri einbrachte. Geht es nach ihm, soll China für die Krise haftbar gemacht werden.

Die Anklage im Ton einer Kriegserklärung ist ein politischer Akt. Das Papier enthält jene Argumente, mit denen US-Präsident Donald Trump hofft, trotz Krise erfolgreich in die Wahl ziehen zu können. Es ist eine Mischung aus Wahrem, Falschem und übertriebenen Anwürfen – und vielen Punkten, bei denen unklar ist, in welche dieser Kategorien sie fallen.

Hat die Volksrepublik Fakten verschwiegen und bei der Covid-19-Bekämpfung versagt? Profitiert Peking von der Pandemie? Oder ist alle Kritik überzogenes Wahlkampfgetöse aus den USA – von einer Regierung, die ihre Verantwortung abwälzen will und dabei auch vor Verschwörungstheorien nicht zurückschreckt?

Verdacht und Vergessen

Im Zentrum steht die Mutmaßung, China habe schon im Dezember vom Ausmaß der Krankheit gewusst, womöglich gar, weil das Virus aus einem chinesischen Biolabor stammt. In diesem Fall wäre der Vorwurf richtig, Peking habe lebenswichtige Informationen verschwiegen. Dass die Regierung tatsächlich schon so früh im Bild war, scheint aus aktueller Sicht aber zumindest fraglich – auch wenn in der genauen Zeitleiste zur Ausbreitung von Covid-19 noch immer vieles unklar ist.

Darunter fällt die bisher erfolglose Suche nach "Patient Zero", jenem Menschen, der als Erster von der Krankheit befallen wurde. Genomanalysen, die im März in der Zeitschrift Nature veröffentlicht wurden, legen nahe, dass Sars-CoV-2 im November erstmals im Menschen auftrat.

Dazu passt ein schon im Jänner in The Lancet präsentiertes Papier: Der erste Mensch, dessen Infektion mit dem Virus später nachgewiesen wurde, hatte am 1. Dezember Symptome. Wo er sich angesteckt hat, ist unklar. Der Mann brachte ungünstige Voraussetzungen für Contact-Tracing mit: Er lebte mit einer Alzheimer-Erkrankung, sein Zimmer in einem Pflegeheim verlässt er kaum.

Dass er an einer neuartigen Krankheit gelitten hatte, wurde Forschern laut einem Bericht der von Peking unabhängigen South China Morning Post aber erst frühestens Ende Dezember bewusst, als sie eine Häufung von Lungenentzündungsfällen genauer unter die Lupe nahmen.

Zweifel an der Marktthese

Dennoch: Es sind Fälle wie dieser, die an der gängigen Version zweifeln lassen, das Virus sei auf dem Wildtiermarkt von Wuhan auf den Menschen übergesprungen. Bei 13 der 41 ersten Fälle ließ sich keine Verbindung der Patienten zum Markt feststellen, das Virus könnte also auch dorthin eingeschleppt worden sein und sich dann unter den Kunden verbreitet haben. Was zur nächsten Theorie führt: Das Virus stamme aus einem Biolabor. Es ist jene Idee, die zuletzt viel Staub aufwirbelte.

Ein solches Labor jedenfalls, das Wuhan Institute of Virology, gibt es. Es ist etwa 30 Fahrminuten vom Markt entfernt. Belegbar ist auch, dass dort an Coronaviren geforscht wurde – und unter anderem auch an Fledermäusen, die als Ursprungswirt des Virus gelten. Eine Gruppe anonymer Online-Faktenjäger hat eine Reihe von Berichten zu diesen Forschungen zusammengetragen, sie mit Beispielen für Unfälle in anderen Virenlabors unterfüttert und sie dann zu ihrer These verdichtet.

Das Virus sei in der Natur entstanden, aber lagerte schon länger im Labor. Dann sei es versehentlich von Mitarbeitern nach außen getragen worden. Doch selbst wenn diese Zusammenstellung ein zunächst recht stimmiges Bild zeichnet: Beweise gibt es auch für diese These nicht.

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Trump probiert, mit Angriffen auf China abzulenken – unter anderem mit seiner Bemerkung, das Virus stamme aus einem chinesischen Labor.
Foto: AP / Alex Brandon

Auffällig gut passt sie aber in die Wiederwahlkampagne Donald Trumps, die auch vor steileren Thesen nicht haltmacht. Jene, wonach es sich bei der Krankheit um eine chinesische Biowaffe handelt, weisen Forscher aber zurück: Dagegen spreche die Genetik des Virus.

Und schließlich gibt es auch Indizien, die für den Wildtiermarkt sprechen. Denn nicht zuletzt hatten genau solche Märkte schon vor der dem Ausbruch als wahrscheinlicher Ort für das Überspringen eines Virus gegolten. Also so wahrscheinlich sogar, dass Microsoft-Gründer Bill Gates sie schon 2019 in einer Netflix-Dokumentation in einem Szenario für eine Pandemie erwähnte.

Vorwurf der Vertuschung

Doch obwohl die Forschungen zum Virus-Ursprung völlig transparent verliefen: Der Vorwurf der Vertuschung ist damit nicht ausgeräumt. Zum einen geht es um Offensichtliches, etwa die Bestrafung von acht Ärzten, die Ende Dezember vor einem neuen Virus gewarnt hatten. Rund drei Wochen lang, zwischen Ende Dezember und dem 20. Jänner, hatte Chinas Regierung zudem Anhaltspunkte in Abrede gestellt, dass das Virus von Mensch zu Mensch übertragbar sei.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO hatte dies ebenfalls getan und sieht sich deshalb nun der Kritik der China-Hörigkeit ausgesetzt. Nach einem Bericht der AP wusste man in Peking aber seit 14. Jänner von der einfachen Übertragbarkeit des Virus.

Danach allerdings kamen drastische Maßnahmen und massive Lockdowns, die wegen ihrer ausufernden Folgen für die chinesische Wirtschaft eigentlich unschwer als Zeichen für eine sehr ernste Situation erkennbar gewesen sein müssten.

Passiert ist vielfach nichts, wohl auch aus einem Überlegenheitsgefühl gegenüber Chinas Medizinsystem. Das ist ein Vorwurf, den sich Politiker in den USA und in Europa, aber auch die meisten Medien machen lassen müssen. Und es ist einer, von dem etwa Donald Trump abzulenken versucht, wenn er vom "chinesischen Virus" spricht und Peking verantwortlich macht.

Propaganda bis zur Impfung

Freilich: Auch Chinas Regierung sind weder Propaganda noch Verschwörungstheorien fremd. So stellte ein Sprecher des Außenministeriums, Zhao Lijian, Mitte März die wenig plausible These zur Debatte, US-Soldaten hätten des Virus bei den Militärweltspielen, einer Art Olympia für Soldaten, im Oktober 2019 nach Wuhan eingeschleppt.

Chinas Präsident Xi Jinping stellt sich als Macher dar.
Foto: APA / AFP / Xinhau / Xie Huanchi

Die Staatsmedien tun ihr Möglichstes, um von Ausländern eingeschleppte Covid-19-Fälle zu betonen und die Möglichkeit eines neuen Ausbruchs in China herunterzuspielen. Das autoritäre System, so der oft wenig versteckte Subtext, sei zur Bekämpfung von Seuchen besser geeignet als Demokratien.

Dazu kommen Hilfslieferungen von medizinischem Material, die Peking derzeit in alle Welt schickt. Sie sind ein Dank für ähnliche Lieferungen aus Europa und den USA im Jänner und Februar, sicher auch ernstgemeinte Hilfe – aber auch Teil einer PR-Offensive.

Die wirklich große Herausforderung, der Wiederaufbau der Wirtschaft, steht bevor – in der restlichen Welt und in China. Dass Peking nun einen Zeitvorteil hat, nahm der Economist jüngst zum Anlass für eine Titelgeschichte mit der Headline Gewinnt jetzt China?.

Doch abgesehen davon, dass es in einer Pandemie kaum Gewinner gibt – entscheidend könnte ohnehin ein anderes Rennen sein: das um die Entwicklung eines Impfstoffs. Wer es gewinnt, der hat auch die Macht, die Arznei zu verteilen. Dann beginnt wieder ein geopolitisches Spiel – egal, woher der Sieger kommen mag. (Manuel Escher, 25.4.2020)