In einer Umfrage gaben 18 Prozent der Schülerinnen und Schüler an, "weniger als neun Stunden pro Woche" für schulische Belange aufzuwenden.

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Susanna Patschka war ihr Leben lang Lehrerin: 42 Berufsjahre liegen hinter ihr, 21 davon war sie Direktorin der Lernwerkstatt Wien-Donaustadt. Frau Patschka leidet. "Unser Auftrag als Lehrkraft lautet doch: Kein Kind soll in der Schule zurückbleiben", sagt sie. Jetzt, in der Coronakrise, sei davon wenig zu spüren: "Warum wurde so lange zugewartet? Es hätte schnell eingegriffen gehört", befindet die pensionierte Schuldirektorin.

Von der Politik werde zu sehr nach einer Lösung für alle Schülerinnen und Schüler gesucht, statt rasch die Akutprobleme anzugehen. Und diese seien bekannt gewesen, sind sie doch seit Jahr und Tag in den Schulen erlebbar.

Warum habe es nicht sofort Fördermaßnahmen für Kinder gegeben, die das E-Learning erwartbar in Schwierigkeiten bringt, fragt sie. Die Lehrkräfte dafür gebe es ja. Man hätte Einzelstunden abhalten können, oder Unterricht mit zwei, drei Kindern.

Bei manchen von ihnen war es auch so schon schwierig, sie nach den langen Sommerferien wieder einzubinden, erinnert sich Patschka: "Da sind wir dann in der Früh die Kinder holen gegangen." Sie ist sich sicher, dass die Motivation jetzt noch mehr im Keller ist. Durch die Corona-Maßnahmen hätten viele Menschen Jobprobleme, seien in Kurzarbeit oder gar arbeitslos: "Da bleibt die Schule auf der Strecke."

Kontakt und Anschluss verloren

Streng genommen sind die Schulen gar nicht geschlossen, es geht nur niemand hin. Stand Mitte April waren kaum mehr als 13.000 Schülerinnen und Schüler in den Schulen anwesend. Vor Ostern waren es noch weniger. Viele, die auf einen halbwegs normalen Unterricht drängen, argumentieren mit den durch das E-Learning verlorenen Kindern.

Die Pädagogische Hochschule Zug hat über 7000 Kinder, Eltern, Lehrkräfte in Österreich, Deutschland und der Schweiz befragt, wie ihnen Lernen in Corona-Zeiten gelingt. Dazu zwei Zahlen: 18 Prozent der Schülerinnen und Schüler gaben an, "weniger als neun Stunden pro Woche" für schulische Belange aufzuwenden. Demgegenüber lernt die andere Extremgruppe, nämlich rund ein Drittel der Befragten, 25 Stunden pro Woche.

Studienautor Stephan Huber geht davon aus, dass die Zahl jener, die den Anschluss verloren haben, sogar noch deutlich größer sein könnte – schließlich ist das "Schulbarometer" eine Online-Befragung. Das Ministerium nannte zuletzt 6,8 Prozent der Sechs- bis 14-Jährigen.

Und das Bildungsnetzwerk "Teach for Austria", das vor allem an sogenannten Brennpunktschulen arbeitet, meldete im März gar 20 Prozent der Kinder, zu denen sie den Kontakt verloren hatten. Klingt viel, ist es auch. Jetzt kommt das Aber: Die soziale Benachteiligung ist im Schulwesen ein ständiger Begleiter.

Betreuung statt Elementarpädagogik

Der Stehsatz seit Jahr und Tag lautet: Bildung wird vererbt. Und das beginne schon im Kindergarten, sagt Heidi Schrodt, langjährige AHS-Direktorin, heute bei "Bildunggrenzenlos". Richtig unbehaglich wird ihr, wenn die elementarpädagogischen Einrichtungen neuerdings nur mehr als "Betreuungsangebote" bezeichnet werden.

Das System delegiere sehr viele Aufgaben an die Eltern, nennt Martin Schenk von der Armutskonferenz ein zentrales Problem. Schrodt zitiert gar das Schulorganisationsgesetz, dessen Paragraf 61 die verpflichtende Unterstützung der Eltern festschreibt. Dann werden die Kinder auch noch zu früh in Schulrichtungen aufgeteilt, sagt Schenk: "Je früher die Trennung, desto stärker wirkt der soziale Hintergrund bei der Bildungsentscheidung."

Schulen in ärmeren Vierteln mit hoher Arbeitslosigkeit oder niedrigerem Status wirken sich ungünstig auf die Bildungschancen der Kinder aus. In Corona-Zeiten kommt dann noch ein neuer Faktor hinzu: die soziale Isolierung.

Laut Armutskonferenz leben 80.000 Kinder unter Sozialhilfebedingungen, 58 Prozent davon in zu kleinen, überbelegten Wohnungen, weitere Zehntausende in Haushalten mit prekärer Beschäftigung oder Arbeitslosigkeit – Tendenz steigend. Was auch absehbar ist: Psychosoziale Probleme werden die Schulleitungen im Herbst zusätzlich fordern.

Gleiche Grundkompetenzen

Wie Schenk erwartet auch der Wiener Sprachwissenschafter Gero Fischer, dass die "Bildungsschere noch weiter auseinandergeht". Immerhin biete die Schule zumindest bessere Lernchancen, als es durch die Unterschiedlichkeit der Elternhäuser der Fall ist. Bester Beleg, auch für Pädagogik-Professor Herbert Altrichter (Uni Linz): "Jedes Jahr kommen die Kinder aus den Sommerferien ungleicher zurück, als sie hineingegangen sind." Wobei Gleichmachen natürlich nicht das Ziel ist.

Es gehe darum, dass jeder möglichst die gleichen Grundkompetenzen mitbekommt, sagt Altrichter. Doch auch wenn selbst das hierzulande nur unzureichend gelingt, wie eine Bildungsstudie nach der anderen leidvoll zeigt: Jedenfalls macht es einen Unterschied, ob der Lernort Schule besucht wird, oder nicht – und genau diese Möglichkeit ist in Corona-Zeiten weggebrochen.

Sprachwissenschafter Fischer zeichnet ein wenig schmeichelhaftes Bild der Gesellschaft und des Schulsystems als Ganzes: "Es herrscht immer schon ein Desinteresse, an den alles andere als fairen Rahmenbedingungen etwas zu ändern. Man nimmt zur Kenntnis, dass die NMS im städtischen Raum oft eine Sackgassenschule ist. Es ist offenbar egal. Man lebt damit." Und alle jene, die es betrifft, hätten keine Stimme. Fischer: "Schauen Sie, wie viel Lärm es nun bei der Matura gegeben hat. Da ist eine ganz andere Lobby vorhanden."

Schule wie immer

Zum Beispiel jene, die eine Deutschförderklasse besuchen: Von einer Absage ihrer Tests ist keine Rede, während die mündliche Matura ruck, zuck gefallen ist. Die Entscheidung, die Abschlussklassen als Erste wieder in die Schulen zurückzuholen, habe nur mit einer "Fixierung auf Prüfungen zu tun", glaubt Pädagoge Altrichter.

Doch ob es wirklich die allerwichtigste pädagogische Aufgabe in Corona-Zeiten sei, "die Zeugnisse genauso herzugeben wie auch sonst immer"? Ob es nicht "dringlicher ist, sich den Lernproblemen zu widmen"? Es sind rhetorische Fragen, die Altrichter aufwirft. Mit solchen Entscheidungen würden Signale an die Schulen gefunkt. Dabei wäre es wichtig zu signalisieren, "dass das neue Normal nicht sein kann, alles so zu machen wie bisher".

Fast ident formuliert Bildungspsychologin Christiane Spiel (Uni Wien) ihre Hoffnung: Jetzt sei es an der Zeit zu reflektieren, ob ein ganz wichtiges Ziel von Schule, nämlich Kindern die Fähigkeit zu selbstorganisiertem Lernen mitzugeben, nicht oberste Priorität haben muss. Jedenfalls viel mehr als bisher. "Schule kommt dieser Aufgabe derzeit sehr heterogen nach", formuliert es Spiel diplomatisch.

Die Schulzeit vor Corona kann man nicht ändern. Aber was ist mit der danach? "Es gibt keinen Ansatz, Schule neu zu denken", sagt Sprachwissenschafter Fischer, denn "der müsste ja schon jetzt erkennbar sein".

Was sich jedenfalls gezeigt hat: Nicht nur die Schere zwischen den Schülerinnen und Schülern geht auf, sondern auch jene zwischen den Lehrkräften, zwischen den Schulen. Denn auch "die "Unterschiede, etwa hinsichtlich guten Unterrichtens oder was die Kooperation anlangt" würden sich in der Krise "vergrößern, glaubt Studienbarometer-Autor Huber. (Peter Mayr, Karin Riss, 25.4.2020)