Der Journalist und Autor Robert Misik erklärt im Gastkommentar, warum wir uns trotz Corona-Pandemie in die Wiese legen dürfen, aber weiterhin auf Social Distancing achten müssen.

Cartoon: Michael Murschetz

Österreich hat 15.000 getestete Corona-Erkrankte, wovon aber 12.000 schon wieder genesen sind. 3000 sind infektiös und abgeklärt, das heißt, sie sind im Krankenhaus oder in Quarantäne. Verschiedene Studien aus unseren Nachbarländern legen nahe, dass die Dunkelziffer nicht sonderlich hoch sein sollte. Viel höher als ein Faktor 1:1 oder 1:2 dürfte sie nicht sein. Weder in Österreich noch in Deutschland kann man seriöserweise davon ausgehen, dass mehr als ein Prozent der Bevölkerung "durchseucht" ist, also entweder jetzt, aktuell, infektiös oder genesen.

Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass im Augenblick mehr als 8000 Menschen in Österreich infektiös und unerkannt sind – im Gegenteil, das ist schon eine recht hoch geschätzte Zahl. Wahrscheinlich liegt die Zahl deutlich darunter. Das heißt: Wenn Sie jetzt aus dem Haus gehen und, beispielsweise, durch Wien spazieren, müssen Sie lange gehen, bis die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass Sie einer infektiösen Person begegnen. Statistisch gesehen ist es sehr grob geschätzt jeder Tausendste. Und den sehen Sie vielleicht auch nur von der gegenüberliegenden Straßenseite. Da die meisten von uns, auch wenn wir uns nicht täglich mit Fallzahlen beschäftigen, natürlich "irgendwie" Bescheid wissen, werden wir unvorsichtig und manche sogar ungehalten: Wegen so einer rein theoretischen Gefahr wird das ganze Land lahmgelegt?

Falsche Sicherheit

Nur zur Illustration: Wenn ich den ganzen Tag spazieren gehe, werde ich vielleicht 10.000 Leuten begegnen. Dann ist also – bei einer angenommenen Letalität von 0,3 bis 0,7 der Infizierten – nur ein "Halber" dabei, der aktuell infiziert ist und an der Krankheit sterben wird. Auf Basis dieser Zahlen können wir tatsächlich mit etwas weniger Angst auf die Straße gehen. Gehen Sie ruhig in den Park und legen Sie sich in die Wiese. Selbst wenn Ihnen dabei jemand, der mit einem Ball spielt, zu nahe kommt, ist es wohl immer noch wahrscheinlicher, dass Sie auf der Wiese von einem Ast erschlagen werden, als dass Sie der Passant vom Leben zum Tode befördert.

Zugleich trügen die Zahlen sehr wohl. Wenn alle das Social Distancing nur ein wenig schleifen lassen, wird jeder, dem Sie begegnen, einen mehr infizieren, als er es jetzt tut. Vielleicht sogar drei, wenn wir uns wieder in kleinen Gruppen treffen. Und im Handumdrehen ist nicht jeder Tausendste, sondern jeder Hundertste, der Ihnen begegnet, infektiös. Und hundert Leuten begegnen Sie auf dem Weg zum nächsten Supermarkt, und wenn Sie reingehen, erst recht. Kurzum: Dieselben Zahlen, die uns in Sicherheit wiegen können, wiegen uns sehr schnell in falscher Sicherheit, wenn wir sie nicht richtig zu lesen vermögen. Weil gerade keine große Gefahr besteht, neigen wir zur Unvorsichtigkeit, worauf dann große Gefahr besteht.

Verlorene Bequemlichkeit

Es ist aber nicht nur das Gefühl einer aufgebauschten – oder scheinbar überstandenen – Gefahr, das zu Unvorsichtigkeit führen kann. Und da beginnt es dann ärgerlich zu werden. Gewiss, für viele Menschen ist die gegenwärtige Lage bedrückend. Manche sitzen alleine daheim und sind einsam; manche halten es kaum mehr aus mit Kleinkindern in der Zweizimmerwohnung, besonders dann, wenn sie neben Kinderbetreuung, Homeschooling auch noch im Homeoffice arbeiten sollen; andere haben massive und begründete Existenzängste wegen der ökonomischen Situation. Aber seien wir nicht naiv: Viele Menschen sind schon nach drei Wochen schlecht gelaunt, nur weil ihr normales Leben ein bisschen anders abläuft. Sie wollen nichts als ihre Bequemlichkeit zurück. Währenddessen retten Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger Menschenleben, haben Patienten das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen; Kranke ersticken; das Gesundheitspersonal schiebt 16-Stunden-Schichten, bei denen es sich in Schutzanzüge zwängen muss, als wären sie Raumfahrer. Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner haben ihre Praxen offen, viele soziale Kontakte und haben Angst, sich zu infizieren. Viele sind extrem exponiert – und selbst Teil der Risikogruppe. Diese Leute haben berechtigte Angst. Währenddessen über die verlorene Bequemlichkeit zu lamentieren etwas äußerst Frivoles hat.

(K)eine Kostenfrage

Für die, die keine kleinen Kinder haben, jene, die nicht vor den Trümmern ihrer Existenz stehen, für die das alles nur ein wenig nervig ist, ist das wirklich keine so fürchterliche Herausforderung, dass man gleich die Nerven wegwerfen muss. Gänzlich frivol wird es dann, wenn man auf Basis dieses relativen Leides beginnt, zu dozieren, dass doch immer Menschen an irgendetwas sterben und ein wenig Übersterblichkeit in Relation zu den Kosten gesehen werden müsse. Fein, bitte dann dazu sagen, wie viele Tote denn die genau richtige Zahl wären (und denen das bitte auch gleich ins Gesicht sagen, dass sie leider für das Gesamtwohl über die Klinge zu springen haben).

Ich will niemandes subjektives Leid relativieren. Menschen sind unterschiedlich und können die gleiche Situation ganz verschieden belastend erleben. Auch ich hocke meist alleine daheim im Stubenarrest, werde zwischen März und Juni ein Viertel meines Einkommens verloren haben und besitze keinen Balkon. Und dennoch fühle ich mich in dieser Situation durchaus privilegiert. Erstens weil ich mit dem Einkommensverlust schlechter dastehe als manche, aber auch besser als viele andere. Soll ich da jammern? Zweitens weil ich subjektiv empfinde, dass ich persönlich schon weit Schlimmeres im Leben erlebt habe, drittens aber weil ich mir echt komisch vorkäme, wenn ich mich beklagen würde, während da draußen Leute sterben, Menschen um ihr Leben ringen und viele Leute einen Höllenjob machen.

Ich denke auch, dass wir versuchen sollten, die Wirtschaftskreisläufe wieder zum Laufen zu bringen, um ökonomisches Leid und nackte Armut, so weit es geht, für die Zukunft zu verhindern, und dass man versuchen sollte, die Isolierung von Kindern und die Belastung ihrer Eltern zu verringern. Aber ein wenig das eigene Lamento in Relation zu den Problemen anderer Leute setzen, denen es so richtig übel geht, sollte doch etwas sein, zu dem wir alle befähigt sind. (Robert Misik, 25.4.2020)