Hans Niessl: "Die Kinder sollten vor allem im Freien Sport betreiben – wann, wenn nicht jetzt?"

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Wien – Hans Niessl macht kein Hehl aus seiner Enttäuschung über Bildungsminister Heinz Faßmann (ÖVP), der als Wissenschafter "viele Studien außer Acht lassen habe". Studien nämlich, die belegen, welchen Beitrag der Sport gesellschaftlich leiste. Der ehemalige burgenländische Landeshauptmann (SPÖ) steht seit November 2019 der Bundessportorganisation Sport Austria als Präsident vor und ist somit der oberste Sportfunktionär des Landes. Bevor er Abgeordneter wurde, war Niessl (68) als Volks- und Hauptschullehrer sowie als Hauptschuldirektor tätig gewesen.

Unter dem Dach von Sports Austria sind die drei großen Dachverbände (ASKÖ, ASVÖ, Union), sechzig Fachverbände sowie das Olympische Komitee (ÖOC), das Paralympische Komitee (ÖPC) und Special Olympics versammelt. Die Tatsache, dass der Turn- wie der Musikunterricht bei der Wiedereröffnung des Unterrichts an Österreichs Schulen ausgeklammert werden, ist im organisierten Sport wie in der Kulturszene auf viel Kritik gestoßen. Bei Niessl rief Faßmanns Entscheidung "großes Unverständnis" hervor.

STANDARD: Hat Sie die vorläufige Einstellung des Turnunterrichts überrascht, oder war damit zu rechnen?

Niessl: Ich bin überrascht, und ich bin enttäuscht. Es ist durch viele Studien belegt, welchen Beitrag der Sport für die Gesundheit leistet und wie wichtig er auch im Lernverhalten ist. Ich kenne und schätze den Bundesminister als Wissenschafter. Doch diese Studien hat er außer Acht lassen. Hätte er sie sich angesehen, so hätte er genau das Gegenteil tun müssen. Er hätte versuchen müssen, dass die Schülerinnen und Schüler möglichst jeden Tag in Bewegung kommen.

STANDARD: Die Maßnahme wird, wenn überhaupt, damit begründet, dass jene Schülerinnen und Schüler, die gerade nicht Unterricht haben, aber doch nicht daheim bleiben können, auch in den großen Turnsälen betreut werden sollen.

Niessl: Das ist, mit Verlaub, eine Ausrede. Man gibt dem Sport nicht den Stellenwert, der ihm zusteht. Es gibt viele Schulen mit großen Sportplätzen. Es gibt fast überall Freiräume, man muss nur ein bisserl kreativ sein. Die Kinder sollten vor allem im Freien Sport betreiben – wann, wenn nicht jetzt? Im Freien, auf einem Sportplatz, ist das Infektionsrisiko viel geringer als in einem Klassenzimmer. Das hat zuletzt auch der deutsche Virologe Drosten erklärt. Und dass Sport das Immunsystem stärkt, steht sowieso außer Frage.

STANDARD: Ist es nicht dennoch wichtiger, dass beispielsweise in einer vierten Klasse Volksschule möglicherweise Versäumtes in den Kernfächern aufgeholt wird, in Mathematik oder Deutsch?

Niessl: Ich war selbst lange Lehrer und auch Schuldirektor. Natürlich sind Deutsch und Mathematik wichtig. Aber ich weiß auch, wie wichtig es ist, dass sich Kinder zwischendurch bewegen. Da geht dann auch in den anderen Gegenständen wieder schneller etwas weiter. Sport trägt so viel zur Homogenität einer Klasse, zum Zusammengehörigkeitsgefühl bei. Viele Kinder hatten gerade in den vergangenen Wochen weniger Bewegung als sonst. Jetzt wäre Sport umso wichtiger, auch um Stress abzubauen. Es ist absurd genug, dass zu Normalzeiten oft stundenlang unterrichtet wird, ohne dass sich die Kinder bewegen.

STANDARD: Vor kurzem haben Sie gemeinsam mit Sportminister Werner Kogler an einer ORF-Diskussion teilgenommen, in der es um die seit Jahren als "tägliche Turnstunde" geforderte Bewegungs- und Sporteinheit ging. Der Sportminister sagte, sie sei ihm ein großes Anliegen. Ist Kogler von Faßmann ignoriert worden?

Niessl: Das kann ich nicht sagen. Kogler hat glaubhaft versichert, dass er in die tägliche Bewegungs- und Sporteinheit investieren will. Natürlich müsste ein Sportminister versuchen, seinen Kollegen im Bildungsministerium vom Stellenwert des Sports zu überzeugen. Das ist, obwohl Faßmann früher selbst Basketball gespielt hat, vorerst anscheinend nicht gelungen. Ich hoffe, dass sich noch etwas tut.

STANDARD: Viele Eltern stehen vor dem Problem, dass ihre Kinder derzeit nicht wie gewohnt sporteln können, weil sie Vereinen in Teamsportarten angehören. Was sagen Sie diesen Eltern?

Niessl: Ich würde mir wünschen, dass auch im Breiten- und Nachwuchssport in absehbarer Zeit zumindest mit Kleingruppentraining begonnen werden kann. Man darf nicht vergessen, dass viele Vereine die Mitgliedsbeiträge gerade aus dem Nachwuchsbereich zum Überleben brauchen. Das Geld, das sonst etwa über Sommerfeste hereinkommt, fällt ja auch komplett weg. Deshalb haben wir auch die Aktion #bleibimverein gestartet.

STANDARD: In den Sommerferien werden viele Familien üblicherweise von Sportvereinen entlastet, die Kinder wochenweise betreuen und trainieren. Auch diese Betreuungsmöglichkeiten drohen heuer wegzufallen. Kann der organisierte Sport alternative Möglichkeiten anbieten?

Niessl: Natürlich könnte er das. Viele Vereine versuchen auch einiges und veranstalten etwa virtuelle Trainings über Video. Aber das ist natürlich nicht Dasselbe. Im Sommer wäre es besonders wichtig, dass die Schulsportanlagen geöffnet sind. "Summer Schooling", wie es geplant ist, damit schulische Defizite abgebaut werden können, halte ich vom Grundsatz her für richtig. Aber auch dieses Angebot sollte man unbedingt mit Sport verbinden, man sollte es über den ganzen Sommer ausdehnen und unter das Motto "Lernen und Sport" stellen.

STANDARD: Wie weit weg ist die tägliche Turnstunde?

Niessl: In einigen Bundesländern waren wir schon auf einem sehr guten Weg. Ich hätte gehofft, dass die tägliche Bewegungs- und Sporteinheit bundesweit sehr nahe ist. Aber jetzt müssen wir Vereine retten und schauen, dass der Sport überhaupt wieder in die Schulen kommt. (Fritz Neumann, 26.4.2020)