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Vor neun Jahren war der deutsche Autor Ralph C. Doege in der Rundschau mit dem Erzählband "Ende der Nacht" vertreten, den ich seinerzeit zum Slipstream-Genre gezählt habe. Der Ausdruck bezeichnet jene schwer bestimmbare Zone, in der die Welten von Science Fiction und realistischer Literatur einander überlappen. Im Detail gibt es wahrscheinlich ungefähr so viele Definitionen von Slipstream wie Bücher, die ihm zugeordnet werden – und die Novelle "Yume" (japanisch für "Traum") ist ein weiteres davon.

Zum Plot

Der namenlos bleibende Ich-Erzähler von "Yume", ein Deutscher, kommt nach Tokio, weil sein dort lebender Zwillingsbruder vor die U-Bahn gestürzt ist und im Koma liegt. Doch dieser Bruder (dessen Namen wir ebenfalls nie erfahren) und seine Ehefrau Mari sind Neurowissenschafter. Sie haben ein Verfahren entwickelt, mit dem sich die Aktivitätsmuster des Gehirns in konkrete Bilder umsetzen lassen. Um die Interpretation dieser Muster zu ermöglichen, holen sie auch unseren Erzähler mit ins Boot: Denn aufgrund der biologischen Übereinstimmung zwischen den Zwillingen sollten auch ihre Muster einander entsprechen. Und möglicherweise erlaubt dieses sogenannte YUME-Interface sogar einen Direktkontakt zwischen den Bewusstseinen.

Wir werden im Verlauf der Erzählung einiges über das Verhältnis zwischen den ungleichen Brüdern erfahren. Tatsächlich ist ihre weit in die Vergangenheit zurückreichende Entfremdung der eigentliche Kern der Erzählung. Und die buchstäblich traumhafte Annäherung als Metapher illustriert eher die Kluft zwischen den beiden, als diese zu überbrücken. Auch das ist eine gängige Strategie von Slipstream: SF-Elemente als Mittel zu verwenden, um ein typisches Thema der Mainstreamliteratur zu erzählen – hier eben die Traumtechnologie oder der Umstand, dass die Geschichte im Jahr 2025 angesiedelt ist.

Strom von Bildern

Die Stadt zieht an mir vorbei. Erstaunlich wenig Autos unterwegs, zumindest für eine so große Stadt. Keine Staus. Alles ein wenig surreal. Ein goldener Klumpen auf einem Hochhausdach. Er sieht aus wie ein exkrementenförmiges UFO aus einem Film aus den Siebzigern, einem Film, an dem Salvador Dali beteiligt gewesen ist. Alles leuchtet und glitzert in der Sonne: Brücken, Wolkenkratzer, Wasser, Shuttleboote, hier und da Bäume ... Und alles funktioniert, alles ist sauber, alles ist auf seltsame Art entspannt. Garten Eden. Tokio, der Traum eines glücklichen Gottes.

Einen Erzählstil, der zu einem maßgeblichen Anteil auf die Aneinanderreihung von Eindrücken setzt, finde ich schnell mal mühsam – jedenfalls dann, wenn er Selbstzweck ist. Hier verhält sich das jedoch anders: Die Bilder im Bewusstseinsstrom des Erzählers sind ja gewissermaßen Dreh- und Angelpunkt des Geschehens, Form und Inhalt werden somit eins.

Lost in Trance

Als die Erzählung beginnt, befindet sich unser Protagonist in einer Art Trancezustand. Der Schlafmangel nach der langen Reise trägt ebenso dazu bei wie das Gefühl, verloren an einem vollkommen fremden Ort zu sein. Da er offenbar über nur wenig Selbstvertrauen verfügt und sich ständig sorgt, etwas falsch zu machen, kommt dieser Faktor besonders stark zum Tragen. (Beobachtung am Rande: Dass er bei der Einreisekontrolle von einer Frau mit Gesichtsmaske empfangen wird, war zu der Zeit, als Doege "Yume" geschrieben hat, noch ein Fremdheit vermittelndes Bild. So schnell kann daraus vertrauter Alltag werden ...)

Doch da ist noch eine entscheidende weitere Komponente im Spiel: Die vermeintlich gerade ablaufenden Geschehnisse der ersten Kapitel finden nämlich in einer Scheingegenwart statt. In Wirklichkeit befindet sich unser Protagonist währenddessen bereits in induziertem Schlaf und spult seine Eindrücke noch einmal ab, während die Wissenschafter seine Gehirnmuster mitverfolgen und gelegentliche Kommentare aus dem Off abgeben. Das verdichtet sich zu einem Erzählstrom, der die Grenzen von Raum und Zeit auflöst – unbedingt lesenswert.

Ein wenig schade finde ich nur, dass Doege dies nicht beibehält oder vielleicht sogar noch verstärkt. Stattdessen werden in der zweiten Hälfte des Bands Traum und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart sukzessive wieder voneinander trennt. Die eine oder andere Episode um den unbeholfenen – und für japanische Dimensionen einfach viel zu großen – Westler vermittelt dann eher die Skurrilität von "Lost in Translation" als den realitätsauflösenden Effekt der ersten Hälfte. Abgesehen von diesem Schwenk ins Konventionelle war Doeges nur etwa 100-seitige Geschichte aber ein faszinierender (Kurz-)Trip. Und im Rahmen dieser Rundschau ein willkommener Ausgleich zu ein paar Wälzern, die auf einem Vielfachen des Umfangs nicht viel zu erzählen hatten.