Die Wissenschaft ist so wichtig wie nie. Täglich können wir Einschätzungen von
Berufsgruppen lesen, deren Relevanz einem bisher nicht unbedingt bewusst war. Und plötzlich scheint auch die Politik der Expertise von Virologen und Co gegenüber durchaus aufgeschlossen zu sein. Selten waren Wissenschafterinnen und Wissenschafter so gefragt wie in der Corona-Krise. Zunächst erscheint das auch plausibel, weil wir wissen wollen, wie sich das Corona-Virus verbreitet und was wir dagegen tun können. Die dafür notwendigen Modelle stellen unterschiedliche Wissenschaften bereit. Sieht man allerdings genauer hin, erweist sich die Zusammenarbeit zwischen Regierung und Wissenschaft als erstaunlich.

Nicht, weil es sinnlos wäre, Szenarien zur Ausbreitung und Eindämmung des Virus zu erstellen. Auch die zum Teil unterschiedlichen Ergebnisse der Wissenschafter sind kein Argument dafür, an der Wissenschaft insgesamt zu zweifeln. Sie bringen aber zum Ausdruck, dass Erkenntnis immer auch auf Vorannahmen und Interpretation beruht.

Wissenschaftliche Empfehlungen werden oft ignoriert

Was vielmehr überrascht, ist der Zeitpunkt und die Entschiedenheit, mit der die Politik auf wissenschaftliche Beratung setzt. Es wird deutlich, dass die Umsetzung der von Forschern empfohlenen Maßnahmen gegen das Virus nicht dem Hausverstand entspricht, sondern politisch motiviert ist. Die Bereitschaft, auf wissenschaftliche Empfehlungen zu hören, bleibt in anderen, vielleicht drastischeren Fällen aus.

Dazu zwei Vergleiche: Seit Jahren weisen ÖkonomInnen, SoziologInnen, PhilosophInnen und PolitikwissenschafterInnen mithilfe von Daten und Modellen darauf hin, dass wachsende ökonomische Ungleichheit die Stabilität von westlichen Demokratien bedroht.

Denn zum einen können reiche Privatpersonen oder Unternehmen größeren Einfluss auf die Politik nehmen als der Durchschnittsbürger und die Durchschnittsbürgerin. Zum anderen erleben wir in den westlichen Demokratien, dass die gefühlte Machtlosigkeit der niedrigen Einkommensklassen von Populisten gegen das erklärte Feindbild – das "liberal-demokratische Establishment" – ausgespielt wird. Diese Entwicklungen sind nicht natürlich, sondern beruhen auf politischen Entscheidungen oder Unterlassungen, wie der renommierte französische Ökonom Thomas Piketty nicht müde wird zu betonen. Auch das Nichthandeln ist in der Politik ein bewusstes Tun.

"Hört auf die Wissenschaft! Bei Corona klappt es doch auch! Klimaschutz jetzt", ist auf dem Schild zu lesen.
Foto: APA/dpa/Markus Scholz

Ebenso bei der Klimakrise mangelt es nicht an seriösen wissenschaftlichen Einschätzungen. Im Gegenteil. Die überwiegende Mehrheit ernst zu nehmender Klimaforscher warnt seit Jahrzehnten mit zunehmender Vehemenz vor den verheerenden Auswirkungen globaler Umweltkatastrophen. Im Unterschied zur Bedrohung durch das Virus bleiben Maßnahmen bisher aber weitgehend aus. Das ist in Anbetracht der aktuellen Situation nur schwer zu rechtfertigen.

Politische Entscheidungsträger stehlen sich gerne mit dem Argument aus der Verantwortung, die Ergebnisse der Klimaforschung seien nicht gesichert. Eine unplausible Ausrede. Denn genauso wie bei Covid-19 beruhen die Erkenntnisse der Klimaforscher auf Daten und deren Auswertung mittels Theorien und Modellen. Wissenschaftliches Wissen ist unbestritten das beste Wissen, das wir haben. Seriöse Forscher wissen aber, dass jede Theorie und Erklärung nur vorläufig gültig ist. Deshalb sucht man endgültige Sicherheit in der Wissenschaft vergeblich.

Der Klimawandel ist zu abstrakt für unser Angstempfinden

Wie ist es also zu erklären, dass die Empfehlungen von WissenschafterInnen im Zuge der Corona-Krise ernst genommen werden, während sie angesichts anderer bevorstehender Bedrohungen größtenteils ignoriert werden? Einen Ansatz dazu bietet der Human- und Umweltwissenschaftler Rob Nixon. Er unterscheidet zwischen "langsamen" Katastrophen wie dem Klimawandel und "schnellen" wie einem Erdbeben oder Terroranschlag. Die bewusste Verpestung der Umwelt und die damit verbundene Zerstörung von Lebensräumen bezeichnet Nixon als "langsame Gewalt". Die Langsamkeit, in der sich die Klimakatastrophe verwirklicht, macht sie gegenüber spontanen Ereignissen schwerer sichtbar. "Lawinen, Vulkane und Tsunamis haben eine instinktiv wirksame, ins Auge springende Macht, die Erzählungen von langsamer Gewalt, die sich über Jahre, Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte entfalten, nicht erreichen." Obwohl schnelle Katastrophen oft nur eine Folge von langsamen Gefahren wie dem Klimawandel sind, wird ihnen weit mehr Aufmerksamkeit geschenkt.

Mit Särgen gefüllte Hallen in Italien und Spanien sind typische Bilder einer schnellen Katastrophe, die Angst und Entsetzen hervorrufen. Das zwingt Politiker zum Handeln. Der Klimawandel tut dies offensichtlich nicht. In der Corona-Krise bemüht sich die Politik, ihr Handeln in das Licht wissenschaftlicher Evidenz zu rücken. Berechnungen zufolge wird der Klimawandel jedoch bei Weitem mehr Schicksale besiegeln als das Virus. Es bleibt offen, ob unsere westlichen Demokratien auch in der Lage sind, die richtigen Antworten auf langsame Katastrophen zu finden, oder ob sie nur auf schnelle Effekte und Affekte setzen, um die nächsten Wahlen zu gewinnen. Klimakrise und wachsende Ungleichheit könnten das Leben, wie wir es kennen, bedrohen. Die Wissenschaft jedenfalls warnt seit Jahrzehnten davor. (Daniel Pilz, 30.4.2020)