Die transsexuelle Prostituierte Chelsy (links) mit einer Kollegin in einem Studio im Stuwerviertel in Wien: "Wir wissen nicht, wie wir uns in Zukunft Essen kaufen sollen."

Foto: Christian Fischer

Die Bewohnerinnen erinnern sich an lautes Pumpern an der Tür, das in einen harschen Auftritt mündete. Kein Kunde sei im Studio gewesen, schwören sie, und statt Perücken und Schminke hätten alle nur Pyjamas getragen. Dennoch setzte es Strafen – und einen Rauswurf aus dem Quartier.

"Wie Hunde haben sie uns auf die Straße gejagt", sagt Chelsy. Zuflucht gefunden hat die 26-Jährige mit ihren Mitstreiterinnen nach jener Polizeirazzia bei einer Branchenkollegin. Plüschiges Flair bietet das Lokal im Wiener Stuwerviertel nicht. Auf nacktem Kunststoffboden stehen abgenützte Möbel, über einem zur Küche umfunktionierten Schluf rankt Plastikefeu. Nur die barbusigen Pin-ups an der Wand geben Hinweis auf die angebotenen Dienstleistungen – und führen doch auf die falsche Fährte: Es sind Transsexuelle, die hier in schmucklosen Kammerln Freier empfingen.

In Wien gestrandet

Rund 70 von ihnen gibt es in Wien, eine kleine Minderheit von 3.800 registrierten Prostituierten, die aber keine geringeren Sorgen plagen. Seitdem wegen der Corona-Krise auch die Bordelle schließen mussten, stehen Sexarbeiterinnen vor dem Nichts. Die Ersparnisse seien allmählich aufgebraucht, erzählt die Belegschaft im Stuwerviertel: "Wir wissen nicht, wie wir in Zukunft Essen kaufen sollen."

Fast alle Prostituierten stammen aus dem Ausland, doch nicht jede schaffte es rechtzeitig nach Hause. Einige Hundert Frauen, schätzt die Polizei, habe die Krise in Wien stranden lassen. Manchen fehle schlicht das Geld, um zu den Kindern nach Rumänien oder Bulgarien zu fahren, sagt Eva Van Rahden, die Leiterin des Beratungszentrums Sophie der Wiener Volkshilfe, das mit Lebensmittelpaketen die Not zu lindern versucht. "Die Lage ist verzweifelt."

Sexarbeiterin Greta kommt üblicherweise regelmäßig für ein paar Wochen oder Monate zum Arbeiten nach Österreich – und ist wegen des Virus hier nun gestrandet.
Foto: Christian Fischer

Sie kenne Leute, die hätten im Chaos vor dem Lockdown hunderte Euro für Flüge hingeblättert, die dann nie stattfanden, sagt Chelsy, die den Absprung gleich gar nicht gewagt hat. Zur Mutter nach Barcelona könne sie ohnehin nicht zurück, seit sich diese bei der Arbeit im Spital angesteckt habe. Auch ihre 50-jährige Kollegin Greta fühlt sich in Wien sicherer als in der Wahlheimat Italien, wo das Virus bis dato 50-mal so viele Menschen dahingerafft hat.

Beide haben EU-Pässe, stammen aber aus Südamerika – und beide haben bereits im Teenageralter begonnen, ihre "Transformation" zur Frau gegen mehr oder minder große Widerstände durchzusetzen. Während die gebürtige Kolumbianerin Greta von Schlägen in der Familie erzählt, hatte Chelsy aus Ecuador "nur" moralischen Druck zu überwinden: "Mein Bruder hat sogar für meine Brüste mitgezahlt."

Um sich Hormonkuren und Operationen leisten zu können, sei sie schließlich ins horizontale Gewerbe eingestiegen, das sie heute aber nur noch in Österreich ausübe. Wie Greta und andere "Chicas" reist Chelsy regelmäßig für ein paar Wochen oder auch Monate zum Arbeiten ein. Der vorgeschriebene kostenlose Gesundheitscheck – so sagen alle – sorge hierzulande für unschlagbar sichere Verhältnisse.

Durchs Sicherheitsnetz fallen

Die Kontrolle ist nicht die einzige Pflicht in Österreich. Sexarbeiterinnen müssen sich nicht nur bei der Polizei melden, was bundesweit an die 8.000 getan haben, sondern auch bei der Sozialversicherung und dem Finanzamt. Als neuen Selbstständigen steht ihnen der in der Krise eingerichtete Härtefallfonds prinzipiell offen – wenn sie denn ihr Einkommen deklariert haben und nachweisen können. Doch wer in die Branche – ob im Stuwerviertel oder anderswo – hineinhört, erfährt: Durch dieses Netz dürften viele fallen.

Abgesehen von der Sprachbarriere und fehlendem Know-how bietet Gerald Tatzgern eine weitere Erklärung an. Als Polizist heiße er es natürlich nicht gut, wenn jemand Steuern unterschlage, schickt der Chef der Zentralstelle zur Bekämpfung von Schlepperkriminalität im Bundeskriminalamt voraus. Doch es gelte mitzudenken, dass viele Frauen – wiewohl formal selbstständig – unter großer Abhängigkeit, wenn nicht Ausbeutung litten: Bordellbetreiber diktierten Arbeitszeiten, Bedingungen und mitunter horrende Mieten. Da steige der Anreiz, Honorare brutto für netto zu kassieren.

In der Teufelsspirale

Es gibt allerdings auch Gegenbeispiele. Sie verwende sogar eine Registrierkasse, sagt Sandra Von Immer, die seit 15 Jahren Kunden bedient. Die 37-Jährige fällt, gemessen an den eigenen Aussagen, mehrfach aus der Reihe: Nicht aus Geldnot und mangels Alternativen mache sie den Job, sondern aus nymphomanischer Neigung. Während sie aber alles abrechne, "hat sich das Gros nicht einmal bei der Sozialversicherung angemeldet", glaubt Von Immer. "Das sind diejenigen, die jetzt raunzen."

Ist Mitleid also fehl am Platz? Die Sexarbeiterin antwortet mit einem Jein. Trotz aller Mitverantwortung brauche es Hilfsangebote für die Gestrauchelten, "sonst werden die Frauen in eine Teufelsspirale hineinschlittern". Um zu überleben, häuften viele bei den Bordellinhabern Schulden an, die sie hinterher abarbeiten müssten, warnt Von Immer. In dieser Zwangslage würden die Frauen jede Entscheidungsgewalt darüber verlieren, worauf sie sich mit welchem Freier einlassen.

Schuldenfalle? Davon könne in ihrem Haus keine Rede sein, sagt Lorena Pineda-Diaz im mit schweren weinroten Vorhängen abgedunkelten Studio im Stuwerviertel. Üblicherweise zahlten Chelsy, Greta und die anderen "Mädchen" 400 Euro pro Woche für Miete und diverse Serviceleistungen wie die Erledigung des Behördenkrams, erläutert die Vermieterin, doch in der Krise sei der Obolus ausgesetzt. Zumindest das Unterkunftsproblem ist damit gelöst. Gegen manche Praxis der ersten Tage hat die Wiener Polizei klargestellt: Prostituierte dürfen in ihren Arbeitsstätten wohnen.

Geblieben sind die Strafen aus der Razzia vom März. Wegen Verstoßes gegen die Covid-19-Regeln müssen die Sexarbeiterinnen jeweils 500 Euro berappen, die Betreiberin zahlt 600 Euro – ein weiterer finanzieller Schlag. Pineda-Diaz klappert längst Hilfsorganisationen ab, um Packerln mit Essen und Toiletteartikeln abzuholen. Die Sozialberatung der Caritas hat Unterstützung gewährt, die Beratungsstelle Sophie ebenfalls.

Tropfen auf den heißen Stein

"Die Lebensmittelpakete sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein", sagt Sophie-Leiterin Van Rahden, "bei uns melden sich so viele Frauen wie noch nie." Die Wiener Volkshilfe hat deshalb eine eigene Spendenaktion ins Leben gerufen – ein ambitioniertes Unterfangen angesichts der wenig populären Zielgruppe. Wer die Notlage der Sexarbeiterinnen mit einem voreiligen "selber schuld" abtue, argumentiert Van Rahden, solle bedenken, dass die Betroffenen in ihren Herkunftsländern kaum Chance auf Arbeit hätten. Volkshilfe-Chefin Tanja Wehsely sagt: "Wir wollen diese Frauen, die durch die Schutzsysteme fallen, aus der Tabuzone holen. Da geht es ums Überleben."

Das gilt umso mehr, wenn sich manche zu einem scheinbaren Ausweg hinreißen lassen. Um die Ecke gestellte Fragen – "eine Freundin von mir will wissen ..." – ließen darauf schließen, dass Frauen trotz Virus mit heimlicher Arbeit kokettierten, berichtet Van Rahden. Ein legales Comeback ist nicht in Sicht: In den Lockerungsplänen der Regierung kommt die Sexbranche bislang nicht vor.

Ins Bordell trotz Verbots

Ob da viele Menschen mit ihrer Gesundheit spielen? "Uns ist bekannt, dass es Nachfrage gibt", sagt Wolfgang Langer vom zuständigen Referat der Wiener Polizei. "Acht der 360 genehmigten Lokale in Wien wurden bereits wegen illegaler Prostitution angezeigt." An sich setze das Verbot aber enge Grenzen, ergänzt der Bundeskriminalbeamte Tatzgern, das beginne mit der Verfügbarkeit der Freier: "Mit welcher Ausrede will sich ein Familienvater in Zeiten wie diesen davonstehlen?"

An potenziellen Klienten fehle es dennoch nicht, erzählt die 49-jährige Maria aus Wien-Favoriten: "Es gibt Stammkunden, die rufen dreimal am Tag an. Manche versprechen: 'Ich lass mir das ordentlich was kosten.'" Ungut findet die Prostituierte diese Lockangebote. "Da versuchen Männer, unsere Notlage auszunützen", sagt sie, "wenn sie dann da wären, würden sie uns runterhandeln."

Ohne Skrupel könnte sie in diesen Tagen das Geschäft ihres Lebens machen, bemerkt auch die Vermieterin Pineda-Diaz aus dem zweiten Bezirk. Reihenweise fragten Kunden um Hausbesuche an: "Es sind mehr als vor der Krise." (Gerald John, 28.4.2020)