Die "anderen", die an der Supermarktkasse stehen, Kranke und Alte pflegen oder Essen liefern, sind die unadressierten Systemerhalter in der Krise. Ihre Rolle im Staat ist zu schwach, um sich neue Positionen zu erarbeiten, so der Politik- und Wirtschaftswissenschafter Ayad Al-Ani im Gastkommentar.

Jemand sagte mir einmal in Abwandlung des Zitats von Ingeborg Bachmann, dass man den Menschen die Wahrheit nicht zumuten kann. Nicht ansprechbar immerhin ist die Wahrheit, dass es eine immer größere Unterscheidung zwischen "wir und die" gibt, erst recht in Corona-Zeiten. Paradoxerweise verstehen wohl die hier lebenden Ausländer, "Österreicher mit Migrationshintergrund" oder "Bio-Österreicher" (diese seltsamen Kategorien) genau, was hier passiert. Sie kennen ihre Rolle, ihren Status. Trotzdem oder gerade deswegen führt dies nicht zu einer politischen Reform, auch nicht in diesen Krisenzeiten, die eigentlich ein Zusammenrücken, sogar einen Neubeginn erfordern würden.

Die Nichtangesprochenen

In Gesprächen finde ich es jedes Mal erschreckend, dass etwa Schulkinder schon die kleinsten Hautschattierungen an ihren Klassenkameraden bemerken und einsortieren. Die abwegige Moral dieser Stigmatisierung ist allen klar: Auch die Wähler dieser Politik sind sich bewusst, was sie getan haben. "Ihre ganze aufgeregte Argumentation", so der slowenische Philosoph Slavoj Žižek, "verschleiert nur ihr ungutes Gefühl." Nun haben Menschen andere Menschen schon immer schlecht behandelt und diskriminiert und werden dies wohl auch in der Zukunft tun. Der Zuzug von anderen hat dazu geführt, dass eingesessene Österreicher in das mittlere Management aufgerückt sind und nun eine Schicht, eine Art untere Kaste, vorhanden ist, die seltsam stabilisierend wirkt, weil nun auch die einheimische Unterschicht auf eine Gruppe blicken kann, der es noch schlechter geht. Diese makabre Situation wird durch die gegenwärtige Krise noch weiter auf die Spitze getrieben. Zwar sind dumpfe rassistische Töne auf einmal verstummt, weil klar wurde, dass die Gesellschaft sie eigentlich nicht braucht. Während viele Bio-Österreicher aber in das Homeoffice flüchten konnten, stehen die "anderen" an der Supermarktkasse, pflegen Kranke und Alte und liefern Essen in die Wohnung. Und sie durften sich sicher sein, dass die Regierungsspitze sie in ihren Krisenkommuniqués nicht einmal adressieren wird.

Kein "Gleichmacher"

Zusätzlich zu zermürbenden Gedanken über ihre Zurückweisung und Geringschätzung, erkennen die anderen, dass ihre prekäre Rolle noch schwieriger wird: Die Automatisierung ihrer Arbeitsplätze wird durch die Krise einen zusätzlichen Schub erlangen. Jetzt geht es nicht mehr nur um niedrigere Kosten, sondern auch um Resilienz und die Absicht, bei kritischen Prozessen nicht mehr auf Menschen angewiesen zu sein: Roboter werden nun gebaut, um Gebäude zu desinfizieren, damit der Mensch diese gefährliche Arbeit nicht tun muss. Waren Pandemien in der Vergangenheit durchaus "Gleichmacher" in dem Sinne, dass unterprivilegierte Gruppen oft gestärkt aus diesen hervortraten, so ist dies diesmal nicht zu erwarten. Im Gegenteil, Investitionen in Automatisierung und Digitalisierung werden nach der Krise ansteigen und eine weitere Verdrängung wird einsetzen.

Gleichzeit ist die Rolle der "anderen" in einem ethnonationalistischen durchdrungenen Staat zu schwach, um sich neue Positionen zu erarbeiten. Und dieser Staat wird wohl stärker werden und quasi einen Schlussstrich unter eine Entwicklung ziehen, die schon länger andauert: einen Wandel der politischen Sprache von einer Freiheits- und Gleichberechtigungsmetaphorik zu einer "Schutzmetaphorik", so der deutsche Soziologe Heinz Bude. Aber dieser Schutz wird nicht für die "anderen" gelten. Im Gegenteil, gemäß der bisherigen Politik des Kanzlers wird dieser Schutz nur möglich, wenn die "anderen" ausgeschlossen werden ("Für unsere Leut' …"). Hilfe auf der Ebene der EU wird wohl auch nicht kommen. Möglicherweise hat sich dieses Thema überhaupt erledigt.

Chance Wirtschaft

Nun rächt es sich, dass die bisherige Rhetorik vor allem auf Unterteilung, Identifikation, Abwertung, Herkunft und Erbe ausgerichtet ist und wenig auf Gemeinsames, Zukunftsorientiertes. Auch die Opposition ist hier nicht zu entlasten, denn sie hat durch ihre Taten oder Unterlassungen zu dieser Situation beigetragen. Könnten die politischen Parteien sich über die Zeit nicht durch eine stärkere Partizipation der "Neuösterreicher" verändern, inklusiver und offener für deren Anliegen werden? Selbst wenn es – wie im Fall der Justizministerien – tatsächlich passiert, dass eine "Neuösterreicherin" eine wichtige politische Position erlangt, fällt es auf, dass trotz rassistischer Angriffe auf die Ministerin weder sie noch ihre Partei dies groß thematisieren, eher ignorieren. Fast so, als ob es allen peinlich wäre oder die Wahrheit unzumutbar ist.

Daher ist vom politischen System absehbar so etwas wie Ausgleich, Gerechtigkeit und Empathie gegenüber den "anderen" nicht zu erwarten. Vielleicht sollte man sich deshalb auch verstärkt jenem Bereich zuwenden, in dem die "anderen" mehr zu erwarten hätten: der Wirtschaft. Zwar hat der Kapitalismus kein Problem mit Ungerechtigkeit und Ungleichheit, es gilt aber auch das vom amerikanischen Ökonomen Olson geprägte Axiom, dass ein "Arbeitgeber, der Arbeiter einer verachteten Gruppe diskriminiert, höhere Arbeitskosten hat, wenn er mit Firmen konkurriert, die ihren Gewinn nicht durch Vorurteile schmälern". Auf Unternehmen und Sozialpartner werden, bedingt durch die Krise, wohl verstärkt Aufgaben der Stabilisierung der Gesellschaft zukommen: Beschäftigung (auch jenseits von traditioneller Lohnarbeit), Produktion gesellschaftlich notwendiger Güter, Ausbildung und Vermittlung von Arbeit. Und dies könnte für die "anderen" eine Chance sein. Wenn auch eine schwache. (Ayad Al-Ani, 26.4.2020)