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Der englische Autor M. R. Carey hat schon einmal in außergewöhnlich düsteren Bildern heraufbeschworen, wie die Natur zum Großangriff auf die Menschheit bläst: In seinem 2014 erschienenen Erfolgsroman "The Girl with All the Gifts" ("Die Berufene") springt ein Pilz, der normalerweise Ameisen befällt, auf Menschen über und zombifiziert diese. Im brandneuen "The Book of Koli", dem Beginn einer Trilogie, gehen Flora und Fauna etwas grobmotorischer vor: mit Zähnen, Klauen und peitschenden Ästen.

Grüne neue Welt

Everything that lives hates us, it sometimes seems. Or at least they come after us like they hate us. Things we want to eat fight back, hard as they can, and oftentimes win. Neben allerlei gefährlichem Getier bedeutet das in dieser Welt in erster Linie: Bäume. Bäume, die sich wie Tolkiens Huorns bewegen können, ihre Beute umzingeln und zerquetschen und sich dann das tierische Protein einverleiben. An einer Stelle des Romans wird angedeutet, dass Pflanzen und Tiere einst genetisch verändert wurden, damit sie der globalen Umweltvergiftung des 21. Jahrhunderts nicht zum Opfer fielen. Danach haben sie sich noch ein bisschen aus eigener Kraft weiterentwickelt.

In einigen Rezensionen ist der Begriff "far future" gefallen, aber das stimmt so nicht. Da denkt man unwillkürlich an Werke wie Brian Aldiss' "Der lange Nachmittag der Erde" oder Philip José Farmers "Dunkel ist die Sonne", in denen ebenfalls die letzten Menschen in einer feindlichen Wildnis leben und nicht mehr am Ende der Nahrungskette stehen. Aber diese Romane schildern eine wirklich ferne Zukunft. In "The Book of Koli" hingegen kann man sich noch an die alten Ortsnamen erinnern, und so manche technologische Hinterlassenschaft unseres Zeitalters funktioniert immer noch. Es sind erst ein paar hundert Jahre vergangen.

Ein Junge unter vielen

Der Roman beginnt in Mythen Rood, einem 200-Seelen-Dorf im Norden des ehemaligen England. Es ist eine typische Siedlung dieses Zeitalters: Vom Wald umzingelt und isoliert, schützen sich die Bauern von Mythen Rood mit Wällen gegen die Natur. Ihre wichtigste Verteidigungslinie bilden aber die sogenannten Ramparts (was ebenfalls Wall bedeutet und der Trilogie ihren Namen gegeben hat): Das sind die – angeblich – einzigen Menschen, die Relikte aus der einstigen Smart-Technologie noch aktivieren können; zufälligerweise gehören sie alle derselben Familie an ...

Titelheld und Ich-Erzähler, der junge Koli Woodsmith, entstammt nicht dieser Familie, träumt aber davon, auch ein Rampart zu werden. Es ist der Beginn einer Geschichte, die gängigen Mustern der Young-Adult-Literatur folgt: Das Aufwachsen in einer für uns zunächst noch exotisch wirkenden Welt, Initiationsriten, Rivalität um ein Mädchen, Freundschaft und Verrat, der Blick hinter die Kulissen der Gesellschaft und das Erkennen, dass diese nicht so fair ist wie gedacht – all das sind Elemente eines typischen Coming-of-Age-Plots.

Das Verlassen der Gemeinschaft ist ebenfalls ein unabdingbares Element. Darauf bereitet uns bereits der Prolog vor, in dem ein erwachsener (oder vielleicht auch schon alter) Koli einige Andeutungen zu seinem abenteuerlichen Lebensweg macht. Ganz allein wird er ihn aber nicht beschreiten müssen. Unterstützung erhält er unter anderem von der alten Ursala-from-Elsewhere, die als wandernde Medizinerin von Dorf zu Dorf zieht und Menschen eher als Konzept denn als atmende Realität mag. Und von Monono Aware, einer kapriziösen KI, die in einer Art Super-iPod steckt und Koli mit für ihn völlig unverständlichem Popkultur-Geplapper überschwemmt. Beizeiten wird sie ihre rein auf Entertainment beschränkten Programmroutinen aber noch erweitern und parallel zu ihrem neuen Besitzer einen Reifeprozess vollziehen.

Neue Sprache

Bevor ich zu meinem Resümee komme, noch ein Blick auf die Sprache: Zu Beginn reibt man sich ob der vielen vermeintlichen Grammatikfehler ("You might of thought it had fell out of a tree ...") verdutzt die Augen. Carey hat für seinen Roman eine auf regionalen Dialekten basierende Kunstsprache geschaffen, oder besser gesagt eine plausible Weiterentwicklung der Sprache berücksichtigt, die vor allem die Verbformen betrifft. Und das wird auch über alle 400 Seiten hinweg konsequent durchgezogen, schließlich erfahren wir das Geschehen aus Kolis Mund. Das mag speziell Nicht-Muttersprachlern anfangs noch Probleme bereiten, aber keine Angst: Man gewöhnt sich sehr schnell daran.

Und es passt einfach. Koli wirkt dadurch als Erzähler überaus authentisch. Und mag seine Art zu denken und zu sprechen auch schlicht wirken, so bringt sie doch immer wieder erstaunlich tiefe Einsichten wie diese hervor: People will do what they got to do to be together. But it's the being together that matters more than the rules or the place. Ein schöner Kommentar dazu, wie beliebig Ideologien und Regelwerke letztlich sind.

Vergebene Chance

Auf meinem obligatorischen Rezensions-Stichwortzettel hatte ich zunächst noch eine Liste aller in Erscheinung tretenden Killer-Spezies angefangen; im Glauben, dass die Umwelt das Um und Auf des Romans wäre, was auch der Klappentext suggeriert. Tatsächlich spielt das Setting aber eine eher untergeordnete Rolle. Carey konzentriert sich auf zwischenmenschliche Prozesse – und die könnten eigentlich genauso gut in irgendeinem anderen SF- oder Fantasy-Setting ablaufen (von Kolis Akt der Auflehnung bis zum letztlich belanglosen Kannibalen-Kult, dem wir in der zweiten Romanhälfte begegnen). Damit hat Carey leider das potenzielle Alleinstellungsmerkmal seines Romans vernachlässigt.

Ein Beispiel für eine vergebene Chance: In dieser Welt gehen keine Holzfäller, sondern "Holzfänger" in den Wald. Holz muss nicht nur unter lebensgefährlichen Bedingungen gewonnen, sondern auch aufwendig präpariert werden, weil es selbst in gefälltem Zustand noch tödlich sein kann. Es hätte sich schon angeboten, diese für die Gemeinschaft von Mythen Rood zentrale Tätigkeit auch einmal ausführlich zu beschreiben. Es wäre ein interessanterer – weil einzigartiger – Einblick gewesen als beispielsweise die Beschreibung einer recht normalen Hochzeitszeremonie, für die durchaus Platz war.

Gesamtbewertung daher: "The Book of Koli" ist aufgrund von Careys Qualitäten als Autor sicher eine Empfehlung. Aber nur in dem Sinne, dass es auf gelungene Weise eine Geschichte erzählt, die wir schon kennen.