Bot als Emigrant der Nazi-Barbarei die Stirn und erörterte die Frage: Wie entnehmen wir der Vergangenheit jene Elemente, die zu unserer Befreiung dienen? – Walter Benjamin (1892-1940).

Foto: Akademie der Künste, Berlin

Am schroffen Gegensatz zweier allegorischer Figuren mag man die ganze Spannweite ermessen, die Walter Benjamins Bild von der Geschichte umfasst. Da ist zum einen der bucklige Zwerg. Er sitzt im Inneren eines Schach spielenden Automaten und bewegt, selbst durch ein System von Spiegeln unsichtbar gemacht, eine türkisch kostümierte Puppe.

Die hört auf den Namen "Historischer Materialismus": Sie gewinnt tatsächlich jede Partie und profitiert ganz offensichtlich von dem Umstand, dass der Zwerg, "Theologie" geheißen, sich aufgrund seiner Unansehnlichkeit "ohnehin nicht darf blicken lassen" (Benjamin). So beendet der in die Emigration gedrängte Denker die erste seiner insgesamt 18 Thesen "Über den Begriff der Geschichte", 1940 (nebst zwei Anhängen) unter dem Eindruck des Hitler-Stalin-Paktes verfasst als alarmierendes Zeugnis eines Denkens "am Rande des Abgrunds".

Es gehört zu Benjamins eigentümlichen Leistungen, ein strikte materialistisches, auf die Analyse von Herrschaftsverhältnissen gestütztes Denken gegenüber dem Anspruch auf Erlösung geöffnet zu haben. Es kommt freilich nicht häufig vor, dass ein in die Wolle gefärbter Marxist (und jüdisch schriftgelehrter Kopf) die Ankunft eines waschechten Messias vorbereitet. Auch wenn dieser zu seiner Verkündigung offenbar eines missgestalteten Zwerges bedarf.

Trümmer auf Trümmer

Die Geschichte, ohnehin eine "einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft", steht dem, der sie betrachtet, nicht zu seiner beliebigen Verfügung. Eher schon scheint es, der Vergangenheit müsse ihr Bestes – das, worauf die Nachgeborenen, um ihrer notwendigen Befreiung willen, Anspruch erheben – erst noch entrissen werden.

Erinnerung aber ist, ihrem Charakter nach, dem häufig zum Vergessen neigenden Menschengeschlecht unverfügbar. Sie platzt dem, der nach ihr hascht, ohne doch recht zu wissen, wonach er überhaupt sucht, gewissermaßen wie ein Eindringling ins Haus.

Wir dürfen laut Benjamin auch nicht fragen, "wie es denn eigentlich gewesen ist". Das, was uns angeht, widerfährt uns gleichsam wie ein "Choc" (heute schriebe man: "Schock"). Es fährt uns überwältigend in die Glieder, oder aber es huscht bloß vorbei, als "Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt".

Walter Benjamins stark zeitgebundene Kritik an den Sozialdemokraten, an deren Fortschrittsbegriff, der seine Zuversicht aus der vollständigen Unterwerfung der Natur schöpft, lässt auch uns Heutige aufmerken. Korrumpiert ist laut Benjamin ein Begriff von Arbeit, der darauf vergessen lässt, dass die Arbeitskraft das einzige Eigentum so vieler Lohnsklaven darstellt.

Erlösung der Natur

Darum nicht weniger ausgepresst und schmählich unterworfen ist eine Natur, die doch selbst erst zu ihrem Besten erlöst werden muss: um sich von Schöpfungen entbinden zu lassen, die "als mögliche in ihrem Schoße schlummern". Dann erst schmecke "das Meerwasser nicht mehr salzig" und träten die Raubtiere in den Dienst des Menschen.

Vorderhand stand Benjamin, mit der Ausbreitung der Nazi-Barbarei konfrontiert, dem Fletschen so vieler Raubtierzähne schlecht bewaffnet gegenüber. Seine Philosophie des schockhaften Eingedenkens, als Kritik an der reinen Faktenhuberei des Historismus artikuliert, folgt einem anderen Modell von der menschlichen Zeit. Vielleicht müssen wir in der Gegenwart wie auf einer Schwelle innehalten, um als irgendwann Erlöste ins Unbekannte eintreten zu können. Wann immer das sein wird.

Der berühmte "Angelus Novus" aber, der Engel der Geschichte und die zweite allegorische Figur in diesem Schlüsseltext der Moderne, wird weiter vom Sturm, der vom Paradiese herweht, in die Zukunft verblasen. Der Trümmerhaufen vor ihm wächst zum Himmel empor. "Das, was wir den Fortschritt nennen, ist ,dieser' Sturm." (Ronald Pohl, 29.4.2020)