Im Gastkommentar skizziert die Juristin Susanne Giendl, wie eine Gesundheit und Grundrechte schützende Vorgangsweise der Behörden aussehen könnte.

Die Wiener Polizei untersagte seit Inkrafttreten der Ausgangsbeschränkungen am 16. März rund zehn Versammlungen. Eine weitere Handvoll wurde laut Polizeisprecher Eidenberger freiwillig von den Veranstaltern zurückgezogen. "Es ist ein Unikum in der Zweiten Republik, dass alle Versammlungsanzeigen untersagt wurden", betonte Eidenberger laut einer orf.at-Meldung – und verwies auf den "aktuellen, durch die Coronavirus-Pandemie bedingten Ausnahmefall".

Nun haben wir keine konkreten Hinweise darauf, wie lange denn der "Ausnahmefall" noch andauern könnte – je nach Entwicklung der Fallzahlen und medizinischen Antworten könnte der "Tanz"-Teil der "Hammer and the Dance"-Methode (bisschen lockern, bisschen anziehen) auch noch jahrelang dauern. Auch eine gründlich klinisch getestete Impfung kann noch dauern. Was wir aber wissen: Das Recht auf Versammlungsfreiheit ist eine der Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft und sollte daher laut dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) nicht restriktiv ausgelegt werden.

Der Ausnahmefall

Das sagt der EGMR nicht nur so dahin, und es mag auch bezeichnend sein, dass er es unserer schönen Republik im Fall Balluch gegen Österreich schon einmal ausdrücklich erklären musste. In mehr als dreißig Wahlbeobachtungen seit 1997 für die Europäische Union und die OSZE war mir immer derselbe Maßstab vorgegeben: Demokratie kann nur stattfinden, wenn alle Bürgerinnen und Bürger ohne Diskriminierung in der Lage sind, ihre Grundfreiheiten und politischen Rechte zu genießen. Dazu gehören auch Meinungs-, Vereins-, Versammlungs- und Bewegungsfreiheit.

Warum wurden alle Versammlungen seit 16. März in Wien untersagt? Der Polizeisprecher verweist auf den "aktuellen, durch die Coronavirus-Pandemie bedingten Ausnahmefall". Für die am 24. April untersagte – und in der Folge aufgelöste – Versammlung zum Thema "Corona-Gesetzgebung und Schutzmasken-Verteilung" liegt mir der Untersagungsbescheid vor, weshalb ich dazu Näheres ausführen kann. Dies übrigens unabhängig von irgendeiner persönlichen Bewertung des konkreten Versammlungsthemas, darauf darf es ja beim Versammlungsrecht, abgesehen von strafrechtlich relevanten Inhalten, auch gerade nicht ankommen. Es ist wie bei der Meinungsfreiheit: Auch diese gilt keineswegs nur für Meinungen, die man selbst auch – vollständig oder teilweise – teilt.

Die Abstandsfrage

Im Untersagungsbescheid der LPD findet sich eine Wiedergabe verschiedener Rechtsgrundlagen und dann der Satz: "Das Zulassen der Abhaltung einer Versammlung, welche ihrerseits durch ein Zusammenkommen von Personen in Form einer allgemeinen Zugänglichkeit charakterisiert ist, würde dem verfolgten Gesundheitsziel diametral zuwiderlaufen." Und weiter: "Die in der Versammlungsanzeige angeführte erwartete Teilnehmerzahl ist als bloße Schätzung zu verstehen. (...) Das Zulassen der Abhaltung einer Versammlung würde der Zielsetzung der Viruseindämmung vehement entgegenstehen und wäre zudem geeignet, die Moral für das weitere, ohnehin mühevolle Durchhalten in der österreichischen Bevölkerung erheblich nachteilig zu beeinflussen. Neben der unmittelbaren Abhaltung der Versammlung würde begleitend auch durch die An- und Abreise der Manifestanten ein unnötiges Risiko zur Ausbreitung von Covid geschaffen. (...) Die abgegebene Stellungnahme zeigt, dass der Veranstalter lediglich gewillt ist, einen Sicherheitsabstand von einem Meter einzuhalten. Diese Einzelmaßnahme entspricht jedoch nicht den medizinischen Richtlinien des Bundesministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz für Menschenansammlungen."

Was diesen Richtlinien entspricht, erfahren wir leider nicht. Wohl aber wissen wir aus der ebenfalls zitierten Verordnung des Gesundheitsministeriums, dass es eine generelle Ausnahme von dem dort normierten Betretungsverbot gibt, wenn öffentliche Orte im Freien alleine, mit Personen, die im gemeinsamen Haushalt leben, oder mit Haustieren betreten werden sollen, gegenüber anderen Personen ist dabei ein Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten.

Mit dem Argument, dass das aber eben nicht reicht, wurde die Versammlung untersagt. Ein Argument war übrigens offenbar auch noch, dass der Veranstalter die Verwendung eines – im Freien derzeit nirgends behördlich vorgesehenen – Mund-Nasen-Schutzes ablehnte, was nach Meinung der Behörde geeignet erschien, "bei Versammlungen, wo eine Vielzahl von Personen erfahrungsgemäß Sprechchöre und Parolen skandieren, eine durch Tröpfcheninfektion hervorgerufene erhöhte Ansteckungsgefahr hervorzubringen".

Argumentation mit Worst-Case-Szenarien

Nun skandieren Versammlungsteilnehmer nach meiner persönlichen Erfahrung einander eher selten gegenseitig an. Standardgemäß skandiert wird sozusagen geschlossen in Richtung der Obrigkeit, die sich nicht unbedingt einen Meter davor aufstellen muss. Und auch vor Ort hat die Behörde durchaus noch Gestaltungsmöglichkeiten. Auf jeden Fall aber wurden hier zahlreiche Worst-Case-Szenarien aufgestellt, bei denen nach Ansicht der LPD Wien eine Infektion möglich sein könnte, und zwar unter Außerachtlassung sämtlicher medizinischer Aussagen, welche wir seit 16. März gehört haben und welche geschlossen lauteten, dass die Ansteckungsgefahr im Freien zu vernachlässigen ist, sofern der Mindestabstand eingehalten wird.

So kann man mit Grundrechten umgehen, aber so darf man nicht mit Grundrechten umgehen.

Die richtige Vorgehensweise

Die Untersagung einer Versammlung ist nach ständiger Judikatur des Verfassungsgerichtshofs (da sie den Kernbereich des Grundrechts berührt) nur zulässig, wenn sie zur Erreichung der in Artikel 11 Absatz 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention genannten Ziele, zum Beispiel Gesundheit, zwingend notwendig ist, sodass die Untersagung einer Versammlung stets nur ultima ratio sein kann. Die richtige, die Gesundheit und die Grundrechte schützende Vorgangsweise der Behörde wäre daher die Folgende:

- Der Veranstalter macht Vorschläge, wie der Mindestabstand einzuhalten ist – dabei kann die Behörde im informellen Austausch durchaus behilflich sein. So kann man für den vorgesehenen Versammlungsplatz relativ leicht ausrechnen, wie viele Leute dort mit Mindestabstand stehen können, man könnte – nach dem Vorbild einer großen Demonstration in Israel in den vergangenen Tagen – mit Kreide Markierungen am Asphalt für Standplätze vornehmen oder mit Schnüren Abteilungen vornehmen.

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Corona-konformer Protest am 19. April in Tel Aviv.
Foto: Reuters / Corinna Kern

- Zusätzliche Auflagen darüber hinaus sind meines Erachtens nicht zulässig. Wenn die Menschenmenge auf der Prater Hauptallee bei Einhaltung des Abstands ohne Mund-Nasen-Schutz auskommt, muss das auch für Versammlungsteilnehmer reichen.

- Die so stattfindende Versammlung wird seitens der Behörde, wie in Paragraf 7a des Versammlungsgesetzes zwingend vorgesehen, geschützt. Durch die Festlegung eines Schutzbereiches kann auch verhindert werden, dass der Zulauf zur Versammlung zu groß wird und der Sicherheitsabstand nicht mehr eingehalten wird.

- Sollten sich die Versammlungsteilnehmer nicht an den Sicherheitsabstand halten, kann die Versammlung vor Ort von der Behörde untersagt und in weiterer Folge aufgelöst werden.

- Überlegungen betreffend die Moral der übrigen Bevölkerung oder eines "unnötigen Risikos" bei der An- und Abreise dürfen nicht anders bewertet werden als bei langen Warteschlangen außerhalb von Baumärkten oder der An- und Abreise zum Schulunterricht. Es steht der Behörde nicht zu, die Ausübung der Versammlungsfreiheit als "weniger nötig" einzustufen als den Erwerb von Blumenerde. Beides hat seine Berechtigung, eines davon ist ein Grundrecht (Tipp: nicht das mit dem Baumarkt, außer man ist Erwerbsgärtner).

Mut zur Fehlerkultur

Die grundsätzliche Überlegung betrifft übrigens nicht nur die Versammlungsfreiheit, sondern alle unsere Grundrechte und -freiheiten: Gerade weil wir nicht wissen, wie lange Covid-19 das politische Handeln im Land dominieren wird, dürfen unsere Grundrechte nicht weiter und keinesfalls mehr als unbedingt nötig ausgesetzt werden. Es liegt vielmehr an allen drei Gewalten im Lande – Gesetzgebung, Verwaltung (unter der Führung der Regierung) und Gerichtsbarkeit –, sicherzustellen, dass die Ausübung der Grundrechte im jeweils größtmöglichen Ausmaß möglich ist. Dafür muss laufend überprüft werden, ob die Einschränkungen unserer Grundrechte für die Zielerreichung erstens überhaupt geeignet und zweitens notwendig sind (oder es je waren, hier braucht es Mut zur Fehlerkultur), und drittens, ob sie (noch) verhältnismäßig sind. (Susanne Giendl, 28.4.2020)