Per Barcode und Videoanalyse konnten Forscher die Sozialkontakte und somit die Mechanismen der Eindämmung von Krankheiten in ganzen Kolonien untersuchen.
Foto: Timotée Brütsch / University of Lausanne

Eine hohe Bevölkerungsdichte, viel Mobilität, häufige Kontakte mit anderen – in komplexen vernetzten Strukturen haben Krankheitserreger bekanntermaßen ein leichtes Spiel. Das gilt genauso im Ameisenbau. Nur ein einzelnes infiziertes Individuum kann zur Bedrohung für die ganze Gesellschaft werden.

Soziale, also staatenbildende Insekten haben dafür Strategien entwickelt, die frappant jenen Maßnahmen ähneln, mit denen die coronagebeutelten Menschenstaaten derzeit leben müssen. Social Distancing, Isolation, extreme Hygiene, eine Art Immunsystem-Test – all das wird auch bei so manchen Tiergemeinschaften im Fall einer Epidemie in Gang gesetzt.

Verhaltensmuster

"Wenn es zu einem Krankheitsausbruch kommt, bei dem der Erreger direkt von einem Wirt auf den anderen überspringt, gibt es drei Möglichkeiten, das zu verhindern, ganz egal, ob es sich um soziale Tiere wie Wölfe und Insekten oder um Menschen handelt", sagt die Insektenforscherin Sylvia Cremer. "Erstens, dass die Kontakte zwischen den Individuen verringert werden. Zweitens, dass die Anzahl der Pathogene gesenkt wird, was vor allem durch Hygiene gelingt. Und drittens, dass genug Individuen immun beziehungsweise geimpft sind, sodass sich der Erreger nicht mehr verbreiten kann."

Mit epidemiologischen Modellen und Kurven ist Cremer längst vertraut – auch wenn es sich dabei um jene von Ameisenkolonien handelt. Seit zehn Jahren erforscht sie mit ihrer Gruppe am Institute of Science and Technology (IST) Austria in Klosterneuburg, wie Ameisen Krankheiten abwehren und wie der Staat kollektiv geschützt wird durch das Sozialverhalten eines jedes einzelnen Tieres.

Epidemie-Simulationen

Bei der Analyse der Mechanismen von Krankheitsausbreitung und -eindämmung stützt sich die Biologin und Spezialistin für evolutionäre Immunologie nicht nur auf mathematische Theorien, sondern auch auf experimentelle Daten. In Zusammenarbeit mit Forscherinnen und Forschern der Universität Lausanne haben Cremer und ihr Team 2018 in einer im Fachblatt "Science" publizierten Studie erstmals gezeigt, wie die Organisation der Kolonie die Krankheitsausbreitung beeinflusst. Um das Netzwerk von sozialen Kontakten zu vermessen und Bewegungsprofile zu erstellen, wurde zunächst über 4000 Gartenameisen je eine Plakette mit einem QR-Barcode verpasst.

Im Labor wurde dann in den einzelnen etwa 150 Ameisen starken Kolonien Epidemien simuliert. Dazu wurden zehn Futtersammlerinnen Pilzsporen ausgesetzt, die sich durch Kontakt leicht verbreiten. "Auch in der Natur tragen hauptsächlich die Sammlerinnen Pathogene ins Nest", sagt Cremer. "Schon die Aufteilung in Taskforces, die jeweils eigene Aufgaben haben, wirkt prophylaktisch." Sobald die Pilzsporen erkannt wurden, begannen die Untergruppen weniger mit anderen Gruppen zu interagieren. Auch die Kontaktdauer nahm ab. "Sogar Tiere, die gar nicht mit dem Erreger in Berührung gekommen waren, änderten ihr Verhalten", sagt Cremer.

Krankheitsausbreitung in Echtzeit

Per PCR-Test wurde festgestellt, wie viele Pilzsporen jede Ameise nach 24 Stunden Sozialkontakt auf ihrem Körper trug. Durch die veränderten Kontaktmuster konnte die Übertragung im Vergleich zum mathematischen Basismodell eingedämmt werden: Nur wenige Tiere wurden krank, die meisten davon bloß in geringem Ausmaß. Ein "Überlebensexperiment" belegte, dass durch die Sporenbelastung der Ameisen am Tag eins der Epidemie ihre Krankheitsentwicklung und somit ihr Überleben neun Tage nach der Ansteckung vorausgesagt werden konnte. Die Königin blieb übrigens immer geschützt.

"Momentan können wir die Corona-Epidemie und die Auswirkungen von Social-Distancing-Maßnahmen immer nur im Nachhinein verfolgen", sagt Cremer. "Die experimentelle Grundlagenforschung mit Ameisen kann helfen, epidemiologische Prozesse zumindest in Insektenkolonien in Echtzeit zu untersuchen."

Gartenameisen pflegen ausgeklügelte Kontaktnetzwerke.
Foto: Roland Ferrigato & Sina Metzler, IST Austria

In vorhergehenden Studien konnten Sylvia Cremer und ihre Gruppe bereits zeigen, welche peniblen Verhaltensweisen Ameisen an den Tag legen, um Krankheiten zu vermeiden. Bevor sie in ein neues Nest ziehen, desinfizieren sie es erst einmal gründlich. Sollten sich dennoch Krankheitserreger einschleichen, kommen andere Hygienemaßnahmen zum Einsatz: Infizierte Tiere putzen und isolieren sich selbst. Abgesehen von der eigenen Körperhygiene helfen ihnen auch ihre Artgenossen, sich von Erregern zu befreien.

Pflege und Desinfektion

Indem die "Doktorameisen" Bakterien, Keime und Pilze von kranken Tieren abknabbern, nehmen sie geringe Mengen von Pathogenen auf, was einen nützlichen Nebeneffekt hat: Sie werden dadurch nicht krank, sondern stärken damit ihr Immunsystem. "Dieses Immunsystem-Boosting wirkt nicht nur bei Tieren, die eng zusammenleben, sondern wird auch an den Nachwuchs weitergegeben", sagt Cremer. "Dieses Prinzip kennt man auch von der Muttermilch, in der Antikörper enthalten sind."

Zuletzt konnte das Team um Cremer in einer im Fachmagazin "PNAS" veröffentlichten Arbeit beobachten, dass die "Doktorameisen" ihr Verhalten ihrem Immunstatus entsprechend ändern. Sind sie durch vorhergehende Krankheiten schon geschützt, kümmern sie sich intensiver um infizierte Ameisen. Jene, die keine Immunität entwickelt haben, sprühen desinfizierende Ameisensäure auf die Patienten, um ihnen nicht zu nahe zu kommen. Wie die Tiere ihren eigenen Immunsystem-Check durchführen, um dann das Ansteckungsrisiko abwägen zu können, ist noch unklar.

Uralte Strategien

Was können wir also von den Ameisen lernen? "Social Distancing funktioniert hier seit Millionen Jahren, um eine Epidemie einzudämmen. Der Schlüssel zur Verringerung von Pathogenen ist und bleibt Hygiene." Cremer betont zugleich, dass soziale Tiere freilich nur bedingt mit dem Menschen vergleichbar sind. Ameisenkolonien funktionieren eher wie ein Körper, der aus beweglichen Einzelzellen zusammengesetzt ist. Gelingt es etwa in einer Ameisenkolonie nicht, die Epidemie einzudämmen, und ist erst einmal die Brut tödlich infiziert, werden die Puppen – genau wie infizierte Zellen in unserem Körper von den Immunzellen – von den "Ameisen-Fresszellen" entfernt, um eine Weiterverbreitung zu verhindern.

Aktuell erforscht die Biologin übrigens die Bedeutung von Viren im Ameisengesundheitssystem – ein bisher noch wenig beachtetes Gebiet. Außerdem leitet sie das Citizen-Science-Projekt CokoNet des IST, in dem anhand der Einträge von Teilnehmern aus der Bevölkerung analysiert werden soll, wie die Reduktion der sozialen Kontakte unser Leben verändert. Das können uns nämlich auch die Ameisen nicht verraten. (Karin Krichmayr, 29.4.2020)