Die neue Brücke war in Rekordzeit fertig.

Foto: Marco BERTORELLO / AFP

Als zwei riesige Krane am Dienstagvormittag den letzten Fahrbahnträger aus Stahl anhoben und in die letzte noch bestehende Lücke in der Fahrbahnplatte manövrierten, ertönten nicht nur die Sirenen der Baustelle, sondern auch jene des nahe gelegenen Hafens von Genua – denn für die ligurische Hafenstadt war es ein Freudentag. Und er war es auch für ganz Italien: "Das ist ein ganz spezieller, symbolischer Tag für unser Land", betonte Regierungschef Giuseppe Conte. Der gelungene Wiederaufbau der Brücke sei "ein Licht, das Italien Hoffnung gibt" – und Genua "ein Modell für ein Italien, das nach Krisen und Katastrophen wieder aufsteht".

Die neue, 1.067 Meter lange Autobahnbrücke wird in einer durchschnittlichen Höhe von 45 Metern die östlichen mit den westlichen Stadtteilen Genuas verbinden. Die Brückenstruktur ist seit Dienstag fertiggestellt – und das in rekordverdächtiger Zeit trotz Corona-Epidemie und Lockdown. Vor 623 Tagen war der alte, verrostete Morandi-Viadukt auf einer Länge von 200 Metern eingestürzt, vor 444 Tagen war mit dem Abbruch der stehenden gebliebenen Teile der alten Brücke begonnen worden, vor 313 Tagen erfolgte der Spatenstich an den Fundamenten für die Pfeiler des neuen Viadukts. In den nächsten drei Monaten werden in luftiger Höhe noch die letzten Arbeiten zur Bereitstellung der Fahrbahn erfolgen; gegen Ende Juli soll die Brücke dem Verkehr übergeben werden. Die Baukosten betragen laut offiziellen Angaben lediglich 202 Millionen Euro.

Verdienst des Bürgermeisters

Das "Wunder von Genua", wie es die Bewohner der Hafenstadt nennen, ist zu einem guten Teil das Verdienst von Bürgermeister Marco Bucci, der von der Regierung als Sonderkommissar für den Wiederaufbau eingesetzt und mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet wurde. Bucci sorgte dafür, dass zunächst bis zu 1.000 Menschen auf der Baustelle und in den Projektbüros arbeiten konnten, ohne von der sonst lähmenden Bürokratie behindert zu werden. Nach dem Ausbruch der Corona-Epidemie im März waren immer noch zwischen 200 und 300 Personen auf der Baustelle beschäftigt – rund um die Uhr, in der Nacht unter Flutlichtbeleuchtung. Insgesamt sind in der Fahrbahnplatte und in den 18 Brückenpfeilern 24.000 Tonnen Stahl verbaut worden – dreimal mehr als im Eiffelturm.

Ein strenges Protokoll mit regelmäßigem Fiebermessen und Virentests bei den Arbeitern sorgte dafür, dass sich die Epidemie auf der Großbaustelle nicht ausbreiten konnte, obwohl ein Arbeiter aus Bergamo positiv auf den Erreger getestet worden war. Nach Auffassung von Gesundheitsexperten könnten die Maßnahmen der Brückenbaustelle als Blaupause für andere Großbaustellen in Zeiten der Corona-Epidemie dienen – und ganz generell als Vorbild für die Regierung Conte, die sich mit ihrer Exit-Strategie aus dem Lockdown ungemein schwer tut und wegen ihrer Zögerlichkeit in Italien unter starkem Beschuss steht.

43 Tote erhalten Gedenkstätte

Beim Einsturz des alten Morandi-Viadukts am 14. August 2018 hatten 43 Menschen ihr Leben verloren; hunderte Einwohner Genuas, deren Häuser unter der Brücke standen, wurden obdachlos. Schon kurz nach dem Desaster stellte sich heraus, dass an der gewagten, aus dem Jahr 1967 stammenden Konstruktion Unterhaltsarbeiten vernachlässigt, Kontrollen oberflächlich durchgeführt und unzählige Warnungen in den Wind geschlagen worden waren. Genuas Staatsanwälte ermitteln gegen insgesamt 71 Personen, darunter Führungskräfte des privaten Autobahnbetreibers Autostrade d'Italia Spa sowie gegen Beamte des Ministeriums für Verkehr und Infrastruktur. Die Verantwortlichen stehen noch nicht fest. Für die 43 Opfer des Brückeneinsturzes wird am Fuß des neuen Viadukts eine Gedenkstädte errichtet.

Der Einsturz der Brücke war zu einem Symbol geworden für ein Italien mit bröckelnden, vernachlässigten Infrastrukturen, für private und staatliche Gleichgültigkeit und Verantwortungslosigkeit. Der schnelle und effiziente Neubau in Stahl und Beton dagegen steht für ein Land, das oft dann zu herausragenden Leistungen fähig ist, wenn die Not am größten ist. Das sieht auch der Genueser Stararchitekt Renzo Piano so, der die neue Brücke – gratis, als Geschenk an seine Heimatstadt – entworfen hat. Aber: "Es ist zwar tröstlich zu sehen, wozu wir imstande sind – aber ich würde mir wünschen, dass solche Leistungen der Normalfall wären und dass wir nicht immer erst auf ein Unglück warten müssen", betonte Piano in einem Interview mit der Zeitung "La Repubblica". Er war am Dienstag der große Abwesende an der Zeremonie: Der Architekt befindet sich in seinem Büro in Paris in Quarantäne.

Was nun noch fehlt, ist der Name für die neue Brücke; die Stadtbehörden haben einen Ideenwettbewerb veranstaltet. Die alte Brücke war nach ihrem Konstrukteur Ricardo Morandi benannt worden. Für den neuen Viadukt stehen als Namensgeber außer Renzo Piano vor allem berühmte Genueser Musiker hoch im Kurs: Neben dem Wundergeiger Nicolò Paganini gelten die "Cantautori" Paolo Conte, Fabrizio De Andrè und Luigi Telco als Favoriten. (Dominik Straub aus Rom, 29.4.2020)