Frage:

"Lieber Familienrat! Wir sind relativ verzweifelt. Unsere Tochter ist sechs Jahre alt und kommt bald in die Schule. Sie ist aufgeweckt und völlig normal entwickelt. Nachts ist sie seit einem Jahr trocken, für ihr kleines Geschäft benötigt sie seit drei Jahren keine Windel mehr. Nur für ihr "Großes" besteht sie auf einer Windel. Wir versuchen immer wieder, ihr die Toilette "schmackhaft" zu machen. Wir versprechen ihr Geschenke und Lob ... Wir haben die Windeln auch schon einmal weggenommen, sie saß dann eine Stunde lang weinend und schreiend und völlig verzweifelt auf der Toilette und sagte: "Ich kann nicht, ich habe Angst, da kommt nichts, ich kann das nicht!"

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Nicht immer gelingt der Übergang zum "Sauberwerden" reibungslos. Das kann auch Kinder belasten.
Foto: Getty Images/Juanmonino

Langsam weiß ich nicht mehr, was ich machen soll. Ich habe Angst, dass sich das Verhalten schon so verfestigt hat, dass wir es nicht mehr ändern können. Selbst zeigt sie keinen Ehrgeiz, irgendwann mal die die Windel loszuwerden. Haben wir den Zeitpunkt für das Sauberwerden verpasst? Haben Sie eine Antwort für ihr Verhalten? Was können wir tun?"

Antwort von Hans-Otto Thomashoff

Das Problem mit der Windel ist gar nicht selten. Beim Windelritual Ihrer Tochter geht es um Kontrolle. Weil es in jungen Jahren noch nicht so viel gibt, wo der Mensch seine Kontrolle wirkmächtig erleben kann, ist das Stuhlverhalten ein wunderbares Feld, um das zu tun. Womöglich geht es beim Bestehen auf der Windel genau darum, dass Ihre Tochter sehen will, was sie erschaffen hat, und den Haufen nicht einfach ungesehen, und ohne ihn begutachtet und bewundert zu haben, im Abfluss verschwinden sehen will. Und natürlich kontrolliert sie so ganz nebenbei mit ihrem Verhalten auch die elterliche Aufmerksamkeit.

Wie sehr das Thema Toilette auch auf viele Erwachsene noch eine ungeheure Faszination ausübt, hat das Verhalten zahlreicher Menschen zu Beginn der Corona-Krise gezeigt, für die es offenkundig nichts Wichtigeres zu tun gab, als enorme Vorräte an Klopapier zu hamstern. Und auch das Bedürfnis nach Kontrolle ist für viele Erwachsene wichtig, weil Kontrolle eine Strategie gegen Angst ist.

Ich würde mir, was Ihre Tochter angeht, keine Sorgen machen: Entwicklungsschritte verlaufen eben unterschiedlich, allerdings sind sie dann doch irgendwann geschafft. Geben Sie Ihrer Tochter doch, wenn sie darauf besteht, die Windel in die Schule mit. Die Reaktion ihrer Mitschüler, wenn sie sie dann in der Schule auspackt und anziehen will, wird schnell dazu führen, dass sie es sich anders überlegt. Sie müssen nur aufpassen, dass sie nicht gehänselt wird, und sollten sie am besten schon im Voraus davor warnen. Wahrscheinlich wird sie sich den Toilettengang in der Schule dann verkneifen und es vorziehen, noch eine Weile zu Hause mit Windel auf den Topf gehen – so oft muss man ja auch als Kind nicht groß. Und irgendwann wird ihr das Ganze zu dumm werden, und sie wird ihren Haufen machen wie alle anderen. (Hans-Otto Thomashoff, 30.4.2020)

Hans-Otto Thomashoff ist Psychiater, Psychoanalytiker, zweifacher Vater und Autor. Zuletzt veröffentlichte Bücher: "Das gelungene Ich" (2017) und "Damit aus kleinen Ärschen keine großen werden" (2018).
Foto: Alexandra Diemand

Antwort von Linda Syllaba

Essen, Schlafen und Ausscheidungen gehören zu den Dingen, die kein anderer Mensch für uns erledigen kann, das können wir nur selbst tun. Damit ist eine "Macht" verbunden, die manche Kinder als die einzige erkennen, die sie innehaben. Das klappt ja auch bei Erwachsenen, die zum Beispiel dazu neigen, mental/emotional an etwas "festzuhalten", und als körperliches Symptom dazu Verstopfung entwickeln. Da spricht die Psyche durch den Körper, man nennt es Psychosomatik.

Nun sagt Ihre Tochter, dass sie Angst hat, also geht es um Sicherheit. Sicherheit erlangen Kinder durch beständige, verlässliche und liebevoll zugewandte Eltern und durch die glaubhafte Vermittlung, dass an das Kind geglaubt wird. Wir muten dir zu, wir trauen dir zu, etwas selbst zu schaffen. Nicht alleine, aber selbst. Du kannst das. Wir glauben an dich.

Nun würde ich empfehlen, diesen Zugang nicht nur beim Toilettengang anzuwenden, sondern bei allen anderen Aufgaben des Lebens einer Sechsjährigen ebenfalls. Unterstützen Sie Ihre Tochter so auf dem Weg in ihre Selbständigkeit, ihre Eigenverantwortung und damit verbunden in ihrem Autonomiebedürfnis. Das beginnt ja entwicklungsbedingt schon früher, spätestens zwischen zwei und drei Jahren. Selber machen, nicht alleine. Ich bin da, wenn du Hilfe brauchst, in Sichtweite, in Rufweite. Das sollte die Grundbotschaft sein und betrifft Basteln, Spielen, Aufräumen, Hausarbeiten, Schul- und andere Aufgaben. Das stärkt den Selbstwert ungemein und führt zu steigender Selbstwirksamkeit, Selbstwahrnehmung und Selbstvertrauen. Das alles wächst nicht durch inflationäres Lob, das ist ein Irrglaube. Auch von Geschenken, also Bestechung, rate ich ab. Damit geht die intrinsische Motivation, etwas der Sache wegen zu tun, verloren. Kinder malen dann nicht mehr des Malens wegen, sondern um sich ihr Lob abzuholen. Damit züchten Sie einen Lob-Junkie heran, der in seinem Leben immer jemanden brauchen wird, der auf die Schulter klopft und bestätigt. Aufrichtige Anerkennung, ehrliche Begeisterungsbekundung ist natürlich erlaubt – wovor ich warnen will, ist, Lob als Manipulationsmittel einzusetzen!

Vertrauen Sie Ihrer Tochter. Es wird der Zeitpunkt kommen, an dem sie vollständig "sauber" wird. Legen Sie die Aufmerksamkeit lieber auf die anderen Aspekte der Selbstständigkeit, dann wird die Toilette früher oder später automatisch auch dazugehören. Überlegen Sie sich, womit Sie anfangen könnten (kleine Besorgungen, Schulweg, kochen/backen et cetera). Sie können diesen Plan ruhig auch mit Ihrer Tochter besprechen, also wenn es für Sie stimmig ist: "Wir haben beschlossen, dass wir dir ab jetzt mehr Dinge zutrauen wollen, die du selbstständig machen darfst. Uns ist dazu Folgendes eingefallen … Was meinst du, was willst du gerne mal selber machen?" Falls Sie sich in meiner Vermutung wiederfinden, stellen Sie sich darauf ein, dass es ein wenig Umgewöhnung brauchen wird und das Aufgeben langbenutzter Verhaltensmuster. Bleiben Sie trotzdem dran.

Es bleibt am Ende noch zu erwähnen, dass Kinder ja oft auch "Spiegel" ihrer Eltern sind und das, was zum Ausdruck kommt, nicht unbedingt (in diesem Fall) die Angst des Kindes ist, sondern eigentlich einem Elternteil "gehört". Sollte das so sein, entlasten Sie Ihr Kind am besten durch das aktive Auseinandersetzen mit den eigenen Themen, gegebenenfalls auch mit professioneller Unterstützung. (Linda Syllaba, 30.4.2020)

Linda Syllaba ist diplomierte psychologische Beraterin, Familiencoach nach Jesper Juul und Mutter. Aktuelles Buch: "Die Schimpf-Diät" (2019).
Foto: Bianca Kübler Photography