Völker, seht die Signale: Sozialdemokratische Zukunftsschau aus Anlass des Wiener 1.-Mai-Aufmarsches 2016.

Foto: Robert Newald

Rein äußerlich unterscheiden sich die führenden Sozialdemokraten der ersten Generationen – vom Hainfelder Einigungsparteitag 1888/89 aufwärts – in nichts von ihren bürgerlichen Widersachern. Brillante Köpfe wie Victor Adler, die vor der vorletzten Jahrhundertwende als Armenärzte wirkten. Die den Grundstein für eine der erfolgreichsten Massenparteien des ganzen Kontinents legten – und dabei doch immer brave, "seriöse" Bürger blieben.

Sie waren deutschnational gesinnt, im Gefolge von 1848 liberal-demokratisch. Um die Herstellung jener bürgerlichen Freiheiten bemüht, die von der zusehends mumifizierten Monarchie entweder nur halbherzig oder aus rein staatsbürokratischem Interesse eingeräumt wurden.

Prompt ließ sich Adler, eine mäßigende Stimme im Konzert der internationalen Revoluzzer, vor der vorletzten Jahrhundertwende als "Hofrat der Revolution" bezeichnen. Noch heute, 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, kann man die Wochenschaubilder mit Karl Renner bewundern. Dieser Spitzenjurist, Kanzler der Provisorischen Regierung, wirkt, als wäre er in Lackschuhen, mit steifem Zylinder, soeben aus dem Korb eines Fesselballons gestiegen. Seine Erscheinung hat mehr mit Jules Verne zu tun als mit profanen Fragen der Sozialgesetzgebung.

Produktive Widersprüche

Renner erscheint noch heute als ehrwürdiger Sendbote einer versunkenen Epoche. In ihr hatte die Sozialdemokratie an verantwortlicher Stelle an der schrittweisen Befreiung hunderttausender Unterdrückter vom Massenelend mitgewirkt. Ein Buch der Stunde, ein dicker Wälzer voller produktiver Widersprüche, nennt sich denn auch "Vorwärts! Österreichische Sozialdemokratie seit 1889".

Der dunkelrote Schinken muss – im Angesicht von Corona und Abstandhalten – der SPÖ das Aufmarschieren am 1. Mai ersetzen. Und er muss tendenziell erklären helfen, warum der "Bewegung" so viel von jenem Schwung verloren gegangen ist, der während mitreißender Phasen (Bruno Kreisky!) Scharen von Sympathisanten anzog. Die sich heute z.B. in den Sphären des weltweiten Netzes weitaus behaglicher fühlen, als etwa im Umfeld der Zentrale in der Wiener Löwelstraße.

Wer die Geschichte dieser Gesinnungsgemeinschaft in ihrer Tiefe und Tragik ermessen will, der wird von der Prosa des Ex-Staatsarchivdirektors Wolfgang Maderthaner zurecht begeistert sein. Maderthaner, der Atlas dieser gelehrten Unternehmung, schultert die Zentnerlasten eines roten Jahrhunderts mit Ausdruckskraft und gehöriger Empathie. Das "Vorwärts!"-Buch besteht zu einem Gutteil aus seiner Historiographie.

Nichts wird ausgelassen: der aufklärerische Kettenimpuls nicht, der die geschundenen Ex-Hauptstadt der Doppelmonarchie binnen weniger Jahre in das Versuchslabor des "Roten Wiens" verwandelte. Der unerschütterliche Glaube, dass die Erhebung der Menschen aus drückender Not unweigerlich zur Entfaltung ihrer allerbesten Eigenschaften und Gaben führe. Irgendwo im Dickicht der Reformen vor 1934 verschwindet dann auch heimlich, still und weise das eigentlich revolutionäre Erbe.

Todgeweiht oder gestaltungsbereit: Was wird aus der Sozialdemokratie? Über diese Frage diskutierten bei "STANDARD mitreden" linke Vordenker wie Kevin Kühnert (Jusos Deutschland), Robert Misik, Marina Hanke und Rudi Fußi.
DER STANDARD

Nicht der gewaltsame Umsturz wird von den führenden Genossinnen und Genossen propagiert. Eher schon schien der SDAP an einer "Verstetigung" und Verrechtlichung ihrer zahlreichen sozialen Errungenschaften gelegen. Ein schönes, dazu passendes Zitat aus einem entlegenen Winkel des Buches: "Man müsse die Arbeiterschaft in den Stand setzen, ,in sich selbst‘ jene moralischen und intellektuellen Qualitäten zu entwickeln, ohne die der Sozialismus nicht zu verwirklichen sei."

Gebote der Fairness

Innerhalb der rechtlich verbürgten Grenzen der bestehenden Gesellschaft sollte der Neue Mensch, durch ein paar freundliche Klapse ermuntert, entstehen, genauer gesagt: im Rahmen einer "Strategie des Infreiheitsetzens der Elemente der neuen Gesellschaft". So hochherzig – und auch ein bisschen liebenswürdig verworren – dachten sich das Otto Bauer oder Max Adler vor bald 100 Jahren. Von dort waren es nur ein paar folgerichtige Schritte hin zum berühmten Kreisky-Slogan, die Gesellschaft so, wie man sie vorzufinden gezwungen war, "mit Demokratie zu fluten".

An diesem Widerspruch laboriert die SPÖ, gerade weil sich ihre Verdienste um die Modernisierung des Landes nicht im Geringsten kleinreden lassen. Von Karl Renners Interesse an der "Durchstaatlichung" der in den Ersten Weltkrieg verstrickten Monarchie folgt der (rote) Weg in lauter Schritten und Etappen der nämlichen Richtung. Überall dort, wo sich sozialdemokratische Proponenten um das Wohl von Proletariern, von Zu-kurz-Gekommenen, von Frauen und Lehrlingen verdient machen, denken sie zugleich ans Große, Ganze. Die Richtschnur dieses Handelns ist die "Realverfassung". Der Staat sei eine klassenneutrale Einrichtung, sie müsse man für die Reformziele der Arbeiterbewegung nutzbar machen.

Lob der Paragrafen

Manfred Matzka kennzeichnet so (in seinem famosen Buchbeitrag) den "Etatismus" einer Partei, die das Schicksal dazu ausersehen hat, von Mal zu Mal immer staatstragender, darum aber auch verwaschener und zahnloser aufzutreten. Nicht erst seit den Jahrzehnten nach Kreisky beschränken sich rote Forderungen häufig bloß darauf, "was sich in Paragrafen fassen lässt".

Der mächtige Apparat repräsentiert seinerseits den Staat. An dessen Regelungsschrauben dreht er – nicht nur im Wege der sozialpartnerschaftlichen Aushandlung – beherzt mit. Weil die SPÖ aber die Republik als Ganze repräsentiert und nicht nur ein partikulares Interesse, muss sie sich gegenüber kleinen Initiativen oft blinder stellen, als sie in Wahrheit ist.

Anstatt kurrente Befindlichkeiten aufzunehmen, um sie auf Zeit zu ihren eigenen zu machen, stellt die SPÖ sich selbst ein Mandat der Allzuständigkeit aus. Es ist übrigens der Industrielle Hannes Androsch, der den Epilog zu der von Alt-Bundespräsident Heinz Fischer eingeleiteten Fest- und Nachdenkschrift bestreitet. Mit wenigen Federstrichen skizziert der Ex-Finanzminister eine Welt im Umbruch. "Big Data", der Neo-Kapitalismus ohne Anlagekapital, die Cyberkriege, das Bildungserfordernis, die Null-Stunden-Verträge – Androschs Aufzählungsfleiß ist schier unermüdlich. Keine Problemzone, die nicht mindestens dunkelrot von ihm markiert wird.

Nur wo in diesem Transformationsdschungel die SPÖ ihr Biwak aufschlagen soll: Das sagt Androsch wohlweislich nicht. Er schließt lieber mit: "Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und Solidarität". (Ronald Pohl, 30.4.2020)