In Bosnien versuchen Hilfsorganisationen wie das Rote Kreuz die Menschen mit dem Notwendigsten zu versorgen.

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Stoja M. ist schon seit Wochen nicht mehr hinausgegangen. Seit dem 20. März dürfen Personen, die über 65 Jahre alt sind, in Bosnien-Herzegowinas Landesteil der Föderation wegen der Pandemie nicht mehr ihre Wohnungen und Häuser verlassen. Das Gesetz wurde nun ein bisschen gelockert, damit Pensionisten ihre Pensionen von den Banken abheben können. Doch Stoja M. hat eine Gelenksentzündung und kann ohnehin nicht mehr spazieren gehen.

Die 85-Jährige lebt in einer kleinen Wohnung im zweiten Stockwerk eines Mietshauses in Sarajevo. Sie gehört zu den Ärmsten der Armen in der Stadt, die ohne die Hilfe von außen nicht überleben könnten. Sie steht in ihrem rosaroten Schlafmantel an der Tür und nimmt dankbar das Plastikbehältnis entgegen. Das Rote Kreuz bringt ihr jeden Tag ein warmes Essen: Heute ist es ein Topf mit Krautsuppe und ein Wecken billigen Weißbrots.

Keinerlei Unterstützung vom Staat

Boris, ein aufmerksamer, junger Freiwilliger, erkundigt sich bei jedem Besuch bei den alten Leuten nach deren Befinden. Das Gespräch mit dem Helfer des Roten Kreuzes ist der einzige Kontakt in die Außenwelt, die diese Menschen haben. Jeden Tag fahren Boris und seine Mitstreiter mit einem alten, klapprigen VW-Golf auf die Hügel von Sarajevo. Hier heroben an der ehemaligen Frontlinie sind viele zerschossene Häuser zu sehen, dazwischen blühen Flieder und Löwenzahn. Aber manche Menschen, die hier leben, sind beängstigend arm und einsam.

Eine 96-jährige Frau, die in einem Haus im vierten Stock lebt, hat überhaupt keine Angehörigen mehr, sie kann nur mehr ganz gebückt gehen. Als sie die Türe öffnet, blickt sie von unten herauf – aus ihrem zerfurchten Gesicht ist auch Angst herauszulesen. Sie hat überhaupt keine Pension, überhaupt kein Geld. Das soziale Netz in einem derart armen Staat wie Bosnien-Herzegowina ist mehr als rissig. Wenn sie heute keine Krautsuppe bekäme, hätte die alte Dame gar nichts zu essen.

Keine Gelegenheitsjobs mehr

Die soziale Situation hat sich durch die Covid-19-Pandemie in Bosnien-Herzegowina aber noch einmal verschärft. Asad Kučević von der Roten-Kreuz-Stelle in Neu-Sarajevo, erzählt, dass viele alte Leute anfangs in Panik angerufen hätten, weil sie Angst hatten, dass sie niemand mehr versorgen würde, denn sie konnten und können wegen der Ausgangssperren nicht mehr zu den Suppenküchen gehen. Es brauchte vor allem beruhigende Gespräche und Aufklärung am Telefon, meint er. Nun steige aber auch der Bedarf an Überlebenshilfe, weil viele Leute in neue Armut gestürzt wurden.

Rajko Lazić, der Generalsekretär des Roten Kreuzes von Bosnien-Herzegowina, erzählt, dass es seit dem Ausbruch der Pandemie offiziell einen Zuwachs von 30.000 Arbeitslosen gebe – aber da viele Bosnier keinen angemeldeten Jobs nachgingen, seien es tatsächlich viel mehr. Es seien etwa Menschen, die im Transportbereich arbeiten, oder auch Inhaber kleiner Läden. Für diese Leute gibt es in Bosnien-Herzegowina – ganz anders als in Österreich – keine staatliche Unterstützung.

Überlebenspakete und Medikamente

Normalerweise würden 3900 Haushalte vom Roten Kreuz pro Tag mit warmem Essen versorgt. "Aber jetzt ist der Bedarf viel größer. Er ist fast um 50 Prozent gestiegen. Wir versorgen jetzt 5000 Haushalte, weil die Leute keine Einkommen mehr haben." In den letzten Wochen habe man aber zusätzlich viele Leute unterstützt – insgesamt 16.000 Haushalte.

Verteilt werden Überlebenspakete, die Grundnahrungsmittel wie Öl oder Mehl enthalten, und Hygieneartikel. Abgesehen davon wird Menschen geholfen, ihre Rechnungen zu bezahlen, damit etwa die Heizung weiterläuft, aber auch Medikamente werden zugeliefert. Viele Leute hätten auch aufgrund der Transportbeschränkungen große Probleme, die Medikamente zu bekommen, die sie bräuchten – dies gelte für Epilepsiepatienten oder Menschen, die an Autoimmunerkrankungen leiden.

Die Helfer arbeiten auf lokaler Ebene mit den Sozialbehörden zusammen, die wissen, wer besonders bedürftig ist. Das ist insbesondere auf dem Land sehr wichtig. Das Rote Kreuz übernimmt auch die Desinfektionen, die etwa in Migrationszentren großflächig notwendig sind.

Langfristige Auswirkungen durch Ausgangssperren

Lazić verweist darauf, dass die mangelnde Versorgung mit gesundem Essen und Sonne gesundheitliche Folgewirkungen haben werde. "Das Immunsystem des Körpers müsste eigentlich nach der Winterzeit gestärkt werden. Jetzt werden aber wegen der Ausgangssperren andere Krankheiten ansteigen." Im Landesteil Republika Srpska werden etwa – so wie in Serbien – alle Menschen zeitweise für vier Tage komplett eingesperrt. "Das wird sich langfristig auf die psychologische und physiologische Gesundheit auswirken", so Lazić zum STANDARD.

Dem Roten Kreuz in Bosnien-Herzegowina sind nun aber auch die eigenen Einkünfte weggebrochen – denn die lokalen Firmenspenden bleiben nun aus, ebenso wie die Einnahmen aus den Erste-Hilfe-Kursen. "Wir haben deshalb bald kein Geld mehr", erzählt Lazić. "Leute, die kein Einkommen haben und keine Reserven, brauchen uns jetzt aber. Es geht wirklich darum, Leben zu retten."

Hilfe zur Selbsthilfe

Insgesamt gibt es in Bosnien-Herzegowina 166 Rote-Kreuz-Stationen. Erfreulich sei es laut Lazić, dass sich seit der Pandemie viele Freiwillige melden, um mitzuhelfen: "In den letzten Tagen waren 526 Volontäre für uns tätig." Jugendliche unter 18 dürfen aber in der Föderation auch seit Wochen nicht mehr hinaus und können sich deshalb in dieser Situation nicht engagieren.

Das Rote Kreuz will nun in dem südosteuropäischen Land einen Schwerpunkt auf Hilfe zur Selbsthilfe setzen und etwa Kleinbauern mit Saatgut und Werkzeugen unterstützen. "Wir haben in dem Bereich bereits Erfahrung", erzählt Lazić, "weil wir nach den Überschwemmungen 2014 solche Programme gemacht haben." Die Idee ist, dass die Menschen zumindest in ihren eigenen Gärten genug für ihre Grundversorgung anbauen können. "Wir rufen deshalb dazu auf, dass für diese Menschen Saatgut und Werkzeuge gekauft werden können", fügt er hinzu.

"Religion: Liebe"

Mittlerweile haben einige Österreicher mit bosnischen Wurzeln tatsächlich eine Hilfsaktion für die Ärmsten in dem Land ins Leben gerufen. Das österreichische Rote Kreuz hat ein Konto eingerichtet und kooperiert in dieser Sache mit dem Roten Kreuz in Bosnien-Herzegowina. Besonders wichtig ist dabei, dass das Rote Kreuz in Bosnien-Herzegowina allen Menschen hilft, die es am Notwendigsten brauchen – jenseits von Volksgruppe oder Religionszugehörigkeit.

Dieses Credo kann man auch in der Suppenküche am Platz der Helden in Neu-Sarajevo lesen. Hier steht: "Ethnie: Mensch – Religion: Liebe – Nationalität: Welt". (Adelheid Wölfl aus Sarajevo, 29.4.2020)