Am 18. September 2017 tötete ein Afghane in Wien-Favoriten seine jüngere Schwester. Nun müssen seine Eltern vor Gericht, da sie ihn jünger gemacht haben sollen, um an Beihilfen zu kommen.

Foto: APA/Herbert Neubauer

Wien – Die Sippenhaft ist mit der Befreiung Österreichs von der nationalsozialistischen Diktatur vor 75 Jahren glücklicherweise aus dem Rechtssystem verschwunden. Umso ungewöhnlicher ist es, wenn sich auch die Eltern eines verurteilten Mörders vor einem Richter – im Fall der Familie S. ist es Christian Gneist – wiederfinden.

Der Sohn von Herrn und Frau S. hat im September 2017 seine jüngere Schwester in Wien-Favoriten erstochen, im Zuge der Ermittlungen entdeckte man, dass er älter sein muss, als er sagte, und seine Eltern daher zu Unrecht Familienbeihilfe bezogen haben. Das wird ihnen nun genauso vorgeworfen wie der Bezug von 200 Euro in Gutscheinen, die der Fonds Soziales Wien für Schulbedarf des (zu alten) Sohnes ausgestellt hatte.

Dankbar, in Österreich zu sein

"Bekennt er sich schuldig oder nicht schuldig?", lässt Richter Gneist die obligatorische Frage an den afghanischen Erstangeklagten übersetzen. "Das Ganze ist erstens ein Missverständnis, und ich möchte mich zweitens entschuldigen. Wir sind sehr dankbar, dass wir in Österreich sein können", lautet die Antwort. Es könne sein, dass man ein falsches Alter verwendet habe, eine Betrugsabsicht bestreitet der Unbescholtene aber.

"Ist Ihr Sohn am 1.1.1999 geboren oder nicht?", parliert Gneist nicht um den stark erhitzten Brei herum. "Den Tag oder Monat kann ich nicht genau sagen, aber 1999 stimmt", beteuert Herr S. daraufhin. Nur: Schon im Jahr 2013 wurde in Pakistan bei einer Untersuchung vermerkt, dass der Sohn nicht auf 14, sondern auf 17 bis 18 Jahre geschätzt wurde. Im Zuge des Mordprozesses gegen den Sohn kam ein österreichischer forensischer Gutachter zum Schluss, dass er spätestens am 29. Mai 1996 geboren sein könne – der frühestmögliche Zeitpunkt sei 1993.

Afghanischer Präsident als Ankerpunkt

Sein Vater bleibt in seinem Verfahren dabei: Es sei 1999 gewesen. Und er liefert auf Nachfrage des Staatsanwalts sogar noch eine zeitliche Eingrenzung: Sechs Monate bevor Hamid Karzai afghanischer Präsident wurde, sei der fragliche Sohn zur Welt gekommen.

Gneist zeigt sich versiert in moderner Technologie und zückt sein Smartphone, um das Datum zu überprüfen. Wie sich herausstellt, wurde Karzai am 4. Dezember 2001 bei der Afghanistan-Konferenz in Deutschland zum Präsidenten ernannt und am 9. Oktober 2004 erstmals gewählt. Der Sohn wäre daher nochmals mindestens zwei Jahre jünger als ursprünglich angegeben. "Es tut mir leid, das war ein Missverständnis", übersetzt der Dolmetscher die Reaktion auf diesen Widerspruch.

Geburtsurkunde mindestens 13 Jahre später ausgestellt

Der 1. Jänner 1999 findet sich allerdings auch auf einer Geburtsurkunde, die im ersten Quartal 2012 in Afghanistan ausgestellt wurde, offenbar in Vorbereitung der Familiennachholung des in Österreich asylberechtigten Vaters. Auch im Pass des Sohnes steht daher dieses Geburtsdatum.

Wie sich herausstellt, haben weder der Vater noch die mitangeklagte Mutter die diversen Formulare selbst ausgefüllt. Betreuer und die älteren der sechs Kinder hätten das damals übernommen, sagen beide Angeklagte, sie selbst hätten dann nur noch unterschrieben. Auch die Gutscheine für die Schulsachen habe man daher bekommen, die Ausfüllenden verließen sich auf Geburtsurkunde und Reisepass.

Alter falsch, Schulden getilgt

Dieser Umstand führt auch dazu, dass die beiden von Gneist freigesprochen werden. Er hat zwar keinen Zweifel daran, dass das Geburtsdatum des Sohnes falsch ist. Allerdings fehlt ihm die subjektive Tatseite für den angeklagten Sozialbetrug. Der Richter geht davon aus, dass die Afghanen keine Ahnung hatten, was sie eigentlich unterschrieben haben. Die Schulden aus der zu Unrecht bezogenen Familienbeihilfe sind mittlerweile übrigens getilgt, da der Fehlbetrag ratenweise von den Auszahlungen für die anderen Kinder abgezogen wurde, wie ein Zeuge vom Finanzamt verrät.

Der Ankläger gibt keine Erklärung ab, das Urteil ist daher nicht rechtskräftig. "Sie sollen nur Dinge unterschreiben, die Sie auch wirklich verstehen! Wenn Sie sich nicht sicher sind, lassen Sie es sich nochmals erklären", hat Gneist am Ende noch einen Ratschlag parat. (Michael Möseneder, 29.4.2020)