Schon bei seiner Rede zum 75. Jahrestag der Zweiten Republik ließ der Bundeskanzler aufhorchen: Von mehr sozialer Gerechtigkeit nach der Corona-Krise war da die Rede, von einem Bonus für Systemerhalterinnen. Sebastian Kurz versprach den Kampf gegen Konzerne, die vor Österreichs Steuersystem flüchten. Das klang alles ganz schön – sozialdemokratisch.

Am Mittwoch legte Kurz noch eins drauf und versprach Steuererleichterungen für Arbeitnehmer, noch bevor er ebensolche auch für die Wirtschaft ankündigte. Ein Schelm, wer denkt, dass dies mit den bevorstehenden Mai-Feiern zu tun haben könnte.

Sebastian Kurz ist ein derzeit fast übermächtiger politischer Gegner der SPÖ.
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Der 1. Mai, internationaler "Tag der Arbeit", ist rotes Terrain. Für Sozialdemokraten, deren politische Ahnen einst die Arbeiter aus dem Elend holten und alle Rechte erkämpften, die heute noch den Sozialstaat westlicher Prägung ausmachen, ist dies der höchste Feiertag. Das österreichische Epizentrum des 1. Mai ist traditionell der Wiener Rathausplatz. Hier werden Erfolge zelebriert, Niederlagen kleingeredet und strahlende Zukunftsaussichten gemalt. Einmal ist sogar mit Werner Faymann ein SPÖ-Chef und Bundeskanzler am Rathausplatz von den eigenen Leuten gestürzt worden. Ob dies, wie manche glauben, der Anfang vom Ende der SPÖ war, ist umstritten.

Wählerteich

Unumstritten ist dagegen, dass der SPÖ mit Sebastian Kurz ein derzeit fast übermächtiger politischer Gegner erwachsen ist. Kurz ist ein Pragmatiker durch und durch: Er nützt seine Chancen, wo sie sich ergeben. Nach der Flüchtlingskrise 2015 witterte er sie im rechten Wählerpool. Also schloss er rhetorisch Flüchtlingsrouten und gab den Verteidiger der "Festung Europa". Nun wirft er seine Netze in den rot-grünen Wählerteich und schnappt der SPÖ quasi die Themen weg. Man könnte fast sagen, Kurz macht die Merkel: Die deutsche Kanzlerin setzt sich seit Jahren mit Vorliebe auf sozialdemokratische Themen drauf. Ausstieg aus der Atomkraft, Ausbau der Kindergärten, Aussetzen der Wehrpflicht, Ehe für alle – Merkel spielt ihren Koalitionspartner SPD mit dessen ureigensten Forderungen an die Wand.

Kurz ist genauso pragmatisch: 1,6 Millionen Menschen sind in Kurzarbeit oder gar arbeitslos. Was wird diese also am stärksten berühren? Genau: Hilfsmaßnahmen für Arbeitnehmer. Diese kann Kurz leichten Herzens versprechen – viel mehr als das war es bisher nicht. Denn: So vielen Menschen in Österreich nicht zu helfen wäre ökonomischer Wahnsinn.

In der Corona-Krise ist der Staat plötzlich gefragt wie nie. Feiert die Sozialdemokratie jetzt ein Comeback? Auf welche Themen soll sie setzen? Darüber diskutierten unter anderem der deutsche Jungsozialist Kevin Kühnert, Robert Misik und Marina Hanke bei "STANDARD mitreden".
DER STANDARD

Das heißt aber nicht, dass der konservative Kanzler auch ideologisch nach links rückt. Und genau dort liegt die Chance für die SPÖ: An ihr liegt es, aufzuzeigen, was Gerechtigkeit und Solidarität heute tatsächlich bedeuten. Dazu muss sie aber eine viel kantigere Oppositionspolitik als bisher machen. Sie muss für die Einhaltung von Grundrechten und politischem Anstand eintreten – auch dann, wenn es schwierig wird.

Genau dort ist der Haken. Immer, wenn es schwierig wurde, zeigte die SPÖ bisher einen fatalen Hang zur Selbstzerfleischung. Dazu kommt die permanente Selbstbeschäftigung, weil die Partei noch immer nicht für sich geklärt hat, ob sie mit Pamela Rendi-Wagner an der Spitze weitermachen will.

Die SPÖ kann noch so schöne Grundsätze haben, oder die politische Themenlage kann ihr in die Hände spielen: Solange diese Punkte nicht geklärt sind, wird sie nicht gewinnen. Dass Kurz sich jetzt auch noch ausgerechnet auf Bruno Kreisky als "großen Gestalter" beruft, fällt da auch nicht mehr ins Gewicht. (Petra Stuiber, 29.4.2020)