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Ein schneller Verbraucherhinweis: Wer sich nicht gerne verwirren lässt, sollte den (kurzen) Prolog von "Anthropocene Rag" einfach überspringen. US-Autor Alex Irvine erschafft hier einen Mythos und setzt daher zu Beginn auf dasselbe Erzählmuster wie N. K. Jemisin in der Einleitung von "Zerrissene Erde". Also auf Vorgriffe zur kommenden Handlung und Andeutungen, die man zu diesem Zeitpunkt mangels Kontext noch gar nicht verstehen kann. Danach geht es aber straight erzählt weiter.

Die neue Boomer-Generation

Es ist ein Mythos aus der Zukunft, einer eigentlich recht nahen, aber doch ausgesprochen fremdartigen. Verantwortlich dafür ist ein Boom genanntes Phänomen, das die Welt (oder zumindest die hier exklusiv beschriebenen USA) komplett verändert hat. Es läuft kurz gesagt darauf hinaus, dass die gesamte Umwelt mit Nanomaschinchen geflutet wurde. Die sind einfach überall, im entlegensten Biotop ebenso wie im menschlichen Körper. Und an manchen Orten ist die Ballung an Nanos so groß, dass daraus künstliche Intelligenz geboren wurde.

Boom ist allerdings kein stabiler Zustand, sondern ein ständiger Schöpfungsakt. Da die Nanos Materie nach Belieben zerlegen und neu konfigurieren können, kann es passieren, dass mal eben in Blitzesschnelle ein Stück Stadt in seine Moleküle zerlegt wird, um eine historische Szene nachzubilden. Die Menschen, die das Pech haben, sich gerade in diesem Stadtteil aufzuhalten, werden dann gleich mitverwurstet. "The Boom works in mysterious ways", sagt man und paraphrasiert damit aus gutem Grund eine alte Beschreibung Gottes. Denn die Menschen haben keinerlei Kontrolle über die Prozesse, die hier ablaufen. Etwas weniger ehrfürchtig wird der kapriziöse Boom aber auch einmal als "allmächtiges Kleinkind" bezeichnet: Everything was its toy.

Selbsterkenntnis auf Kosten des Homo sapiens

Wer die fantastischen Romane von Matthew de Abaitua kennt ("If Then", "The Destructives"), der wird hier eine Parallele finden. Auch dort entwarfen Künstliche Intelligenzen auf dem Weg zu höherer Erkenntnis seltsame Planspiele, die den Menschen vollkommen unverständlich blieben – obwohl sie in diesen Spielen als Figuren dienen mussten. Die treibende Kraft ist bei Irvine der einprogrammierte Drang der KIs, menschenähnlicher zu werden, also auch Gefühle zu verstehen und sich letztlich selbst zu begreifen. Geschichte und Geschichten scheinen den KIs dafür das geeignete Mittel zu sein – denn wie könnte man die Menschheit besser verstehen lernen als über ihre Mythen?

Darum bringt der Boom ein historisches Reenactment nach dem anderen hervor, und die USA haben sich in eine Art Americana-Themenpark verwandelt: Boomerica thus became a million square miles of myth and history collapsed into one present, with no future and no past. Wir werden es im Verlauf des Romans mit einer ganzen Parade entsprechender Motive zu tun bekommen. Unter anderem tauchen auf: Br'er Rabbit, eine Trickster-Figur aus der Südstaaten-Folklore. Joshua Morton, ein Kaufmann und größenwahnsinniger Exzentriker aus San Francisco, der sich im 19. Jahrhundert zum Kaiser der USA erklärte. Oder auch ein Schaufelraddampfer samt nachgebildetem Mark Twain und die Autoindustrie von Motown samt einem ebenfalls nachgebildeten Henry Ford.

Eine Comic-Adaption wäre ein Hit!

Alex Irvine ist einerseits Englischprofessor und hat andererseits schon eine Reihe von Lizenz-Arbeiten für verschiedene Comic- und Games-Franchises geschrieben. Beides kommt "Anthropocene Rag" zugute: Ersteres hat dafür gesorgt, dass der Roman in wirklich ansprechenden Worten erzählt wird. Zweiteres zeigt sich darin, dass Irvine seine Welt hinreißend designt hat. Er denkt optisch und hat einen guten Sinn fürs Bizarre. So besuchen wir einmal einen verfallenden Bibel-Themenpark, in dem Kreationisten Jesus auf einem Velociraptor reitend verewigt haben ... und in dem in Krisenzeiten gelegentlich auch mal jemand gekreuzigt wird.

So, jetzt habe ich schon sechs Absätze geschrieben und bin noch mit keinem einzigen Wort auf den eigentlichen Plot eingegangen. Der ist aber auch – pst! – nicht die größte Stärke des Romans (was man freilich vor lauter Staunen über das aberwitzige Setting erst sehr spät bemerkt). "Anthropocene Rag" wird als "Nanotech-Western" beworben, aber das ist doch recht oberflächlich betrachtet. Die typischen Erzählmuster von Western gibt es hier nämlich nicht, Parallelen findet man viel eher in der Fantasy. Und ganz konkret bei Roald Dahls "Charlie und die Schokoladenfabrik" – just der Kern von Irvines Americana-Orgie ist also ein Stück britisches Beutegut.

Die große Chance

Den Mittelpunkt der Handlung bildet nämlich Ed, ein Nanokonstrukt mit künstlicher Intelligenz, die – eher widerwillig – drauf und dran ist, ein echtes Ichbewusstsein zu entwickeln. Im Auftrag einer höherstehenden KI pilgert Ed durchs Land (zugegeben: im Westernkostüm), um an eine Reihe ausgewählter Teenager Einladungen zu verteilen. Nicht in die Schokolodadenfabrik, sondern ins mythische Monument City, einen Ort, an dem Boom und Menschen angeblich zu einem Gleichgewicht gefunden haben. In dieser Welt des Niedergangs und der andauernden Gefahr, von Nanotechnologie verschluckt zu werden, wäre das die Entsprechung des Paradieses.

Einladungen erhalten unter anderem die Handwerksgesellin Teeny dos Santos aus San Francisco, der gläubige Briefträger Henry Dale aus New York und ... genau genommen nicht der junge Geck Hendricks aus Florida. Eigentlich ging sie an seinen Zwillingsbruder Kyle, doch Opportunist Geck schnappt sich das Ticket kurzerhand einfach selbst. Zu diesen dreien kommen dann noch einige andere, die teilweise erst spät vorgestellt und auch eher wie Nebenfiguren abgehandelt werden. Für einen Roman dieser Länge hat "Anthropocene Rag" ein paar Protagonisten zu viel.

Der Weg ans oder als Ziel

Der Plot besteht dann im Wesentlichen darin, die einzelnen Wege dieser Auserwählten nach Monument City zu beschreiben. Und es ist schon paradox: Obwohl es hier explizit um das Wesen von Geschichten geht ("We are made of stories"), scheint Irvine vergessen zu haben, dass zu einer guten Geschichte auch ein gut ausgearbeitetes Ende gehört. Ja, der abrupte Schluss von "Anthropocene Rag" ist nicht wirklich unpassend. Aber befriedigend ist er auch nicht, immerhin ist man als Leser ein Wesen mit Gefühlen (oder wie Sportreporter sagen würden: mit Gefühlen und Emotionen).

Sämtliche Kritikpunkte an dem ansonsten fantastischen Leseerlebnis wären allerdings hinfällig, sollte sich herausstellen, dass "Anthropocene Rag" nur der Auftakt einer mehrbändigen Erzählung war. Bisher gibt es dafür aber leider keine Anzeichen.