Küssen sich wie einst Breschnew und Honecker, nur mit Maske: Trump und Xi Jinping.

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Krieg liegt in der Luft. Kein Politiker, keine Politikerin kommt derzeit in den Ansprachen an die Nation ohne den Kontext des Krieges aus. Das appellative Pathos, das dabei entsteht, wird in verschiedenen Dosierungen verabreicht, je nachdem, wie hart die Länder von der Corona-Epidemie getroffen werden.

In Ländern wie Deutschland oder Österreich, in denen das Gesundheitssystem noch nicht an seine Grenzen geraten ist, dient der Krieg bislang nur als Vergleichsfolie. So sprach Bundeskanzler Kurz schon Mitte März von der "größten Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg". Spätestens von diesem Moment an wusste jeder: Die Lage ist ernst, Angst machte sich breit.

Die österreichische Verteidigungsministerin verkündete bald darauf die Einberufung der Miliz als "strategischer Reserve der Republik". Immerhin, auf Reserve sind wir schon. Die deutsche Bundeskanzlerin Merkel sprach wenige Tage später von der "größten Herausforderung seit der deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg" – als müsse sie erst einmal auf der Berliner Mauer Atem schöpfen, bevor sie sich in die Höhen des Krieges versteigt.

Blitzkrieg und Tsunami

Ganz andere Töne schlug der französische Präsident Macron an, als er sich in den ersten Apriltagen an seine pathosgewohnte Grande Nation wandte: "Wir sind im Krieg. Wir kämpfen weder gegen Armeen noch gegen eine andere Nation. Aber der Feind ist da – und er rückt vor." Es muss sich wohl um einen Blitzkrieg handeln, hatte Macron sich doch kurz zuvor noch geweigert, als Schutzmaßnahme die Kommunalwahlen abzusagen.

Noch deutlicher wurde der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte in einem Artikel in der Zeit vom 2. April: "Wir werden von einem Tsunami überrollt, der – genau wie ein Krieg – die Wirtschaft in Trümmern und die Menschen mit Traumata hinterlässt." Täglich, so Conte, würden im Fernsehen "Hunderte von Särgen mit den Gefallenen dieses Krieges gegen einen unsichtbaren Feind gezeigt".

Schließlich hat noch eine Regentin nachgelegt, die bisher nie eine Neigung zur Drama-Queen hatte. Königin Elisabeth II. tat in ihrer Ansprache an die Nation vom 6. April etwas, das sie wohl Überwindung gekostet haben muss: Sie wurde persönlich. Und beschwor eine Erinnerung an das Jahr 1940 herauf, als sie im Alter von 14 Jahren während der deutschen Luftangriffe eine Radioansprache gehalten hatte, gerichtet an die evakuierten Kinder ihres Königreichs.

Grippe oder Schlachtfeld

Einiges ist seltsam an diesem Krieg. Es ist ein Weltkrieg, in dem ausnahmsweise einmal sämtliche Länder des Planeten nicht gegeneinander, sondern gegen einen einzigen Feind kämpfen, Covid-19. Seltsam auch, dass der Feind nicht sichtbar ist. Denn kaum etwas springt mehr ins Auge als ein Kriegsgegner, der mit Panzern und Kampffliegern sein Zerstörungswerk betreibt. Kaum etwas hinterlässt drastischere Spuren als ein Raketenangriff.

Was aber ist das Gemeinsame zwischen der aktuellen Epidemie und einem Krieg? Sind es die Ausgangssperren? Ist es wirklich vergleichbar, wenn ein Staat seine Bürger vor feindlichen Bomben oder vor infektiösen Tröpfchen schützt?

Ist die 14-tägige Quarantäne, in die Infizierte sich derzeit begeben müssen, vergleichbar mit den Horrornächten in Luftschutzkellern, während über einem gerade alles in Schutt und Asche gelegt wird? Ist eine grippeähnliche Epidemie, die beim Großteil der Infizierten einen harmlosen Verlauf nimmt, vergleichbar mit Massensterben auf dem Schlachtfeld?

Ausnahmezustand

Es liegt etwas Hysterisches, ja Obszönes in dieser ganzen Kriegsrhetorik. Ein Blick nach Syrien könnte ausreichen, um zu sehen, was es bedeutet, einem echten Krieg ausgeliefert zu sein. Und gerade jemand wie die Queen, die selbst noch miterlebt hat, wie sich ihre Nation mit "Blut, Schweiß und Tränen" gegen Hitlers Invasionsversuch gewehrt hat, müsste mit solchen Vergleichen vorsichtig sein.

Welchen Zweck, welche Funktion haben diese Kriegsvergleiche? Wer angesichts einer Epidemie von Krieg redet, schürt Ängste, vor einem Feind, der mitten unter uns ist und verborgen in winzigen Tröpfchen nur darauf lauert, uns alle zu hochinfektiösen Mitkämpfern auf seinem Feldzug quer durchs Land zu machen. "Mörderin!", hat unlängst eine Dame in Wien ausgerufen, als eine andere Frau auf dem Gehsteig in bedenklichem Abstand an ihr vorbeigegangen ist.

Krieg ist der absolute Ausnahmezustand. Für Politiker, sonst in der Regel eher als "die da oben" beargwöhnt, ist es die große Stunde der Bewährung. Aller Augen sind plötzlich in banger Erwartung auf sie gerichtet. All ihre Maßnahmen sind gerechtfertigt, dienen sie doch dem verzweifelten Kampf gegen einen Gegner, der die ganze Nation attackiert und infiltriert – und das völlig unprovoziert!

Ein Krieg, der immunisiert

Noch nie war die sonst so heikle Frage der Kriegsschuld so eindeutig zu beantworten. Wenn es einem Politiker gelingt, sein Land wohlbehalten durch diese Heimsuchung zu führen, tritt er bei der nächsten Wahl als Retter der Nation an. Es war kaum vorstellbar, dass Winston Churchill und Dwight D. Eisenhower, die großen Kriegshelden ihrer Nationen, bei den Nachkriegswahlen nicht in die höchsten Ämter gewählt worden wären. Es war das Mindeste, was man ihnen schuldig war.

Zugleich kann der Krieg einen Politiker immunisieren. Wer wie der italienische Ministerpräsident Bilder von Tsunami und Krieg zugleich heraufbeschwört, der braucht sich nicht mehr die Frage zu stellen, ob die überfüllten Notlazarette nicht womöglich eher dem ruinierten Gesundheitssystem geschuldet sind als der Zerstörungskraft des Feindes. Und was zählt noch die skandalöse Fahrlässigkeit einer durchgeführten Kommunalwahl, sobald der Krieg gegen einen unsichtbaren Feind ausgerufen ist?

Die Rede vom "unsichtbaren Feind" ist brandgefährlich, sie öffnet einen Imaginationsraum, in den jeder Mensch nach Belieben seine Ängste und Ressentiments hineinprojizieren kann. Zugleich wird dadurch das reale Bedrohungsszenario ins Unendliche aufgeblasen. Eine Bekannte hat kürzlich gesagt, sie gehe noch zum Supermarkt, da fühle sie sich wie in der "Todeszone". Als müsse sie ihren Einkaufswagen durch ein Minenfeld manövrieren.

Ressentiments & Projektionen

Das Skurrile daran ist: Die Epidemie wird sich zweifellos weiter ausbreiten, das muss sie auch, damit die nötige "Herdenimmunität" einsetzt. Und die allermeisten Menschen werden die Infektion ohne größere Probleme überstehen, viele werden sie nicht einmal bemerken.

Es kommt jetzt darauf an, die Schnelligkeit der viralen Ausbreitung so zu dämpfen, dass die Versorgung aller Risikopersonen, vor allem ältere Menschen und Personen mit Vorerkrankungen, gesichert ist. Zugegeben, alles andere als eine leichte Aufgabe. Aber ist das Krieg?

Dass die Regierenden ihrer Bevölkerung überhaupt einen Krieg suggerieren können, liegt nur dar an, dass die meisten Menschen offenbar jede Störung ihres wohlstandsverwöhnten Lebens als kriegerischen Akt empfinden. Ein neuer Begriff macht die Runde, der "Shutdown", er klingt eher nach einer Schussattacke als nach kontrolliertem Stillstand.

Begonnen hat er mit dem Hamstern von Toilettenpapier, und als die ersten Lockerungen kamen, haben die Menschen zunächst die Baumärkte gestürmt, um sich mit Blumenerde und Wandfarbe einzudecken. Fürwahr typische Kriegsfolgen.

Covid-19 und CO2

Es ist schon ein unglaublicher Zufall, dass dieser virale Krieg zu einem Zeitpunkt ausbricht, als die EU gerade begonnen hat, ihre Bürger auf einen Kraftakt im Kampf gegen den Klimawandel vorzubereiten. Und die Maßnahmen, die nun gegen Covid-19 getroffen werden, ähneln frappant jenen, die nötig wären, um die CO2-Emissionen zu verringern: Drosselung der Industrietätigkeit und des Verkehrs, Verzicht auf Konsum und Überproduktion.

Jetzt, in der Stunde der Epidemie, ist auf einmal möglich, was bislang als undenkbar galt. Schließlich sind wir im Krieg, und der Ausnahmezustand lässt sich natürlich viel leichter rechtfertigen, wenn wir selbst die unschuldigen Opfer sind. Es gibt nämlich einen wesentlichen Unterschied zwischen Covid-19 und CO2: Am Ausbruch der Epidemie tragen wir keine Schuld, am Ausstoß der Treibhausgase sehr wohl.

Marshallplan statt Green Deal

Jeder Krieg hat einmal ein Ende. Dann beginnt die Nachkriegszeit, eine Zeit des Aufbruchs und der Reparatur der Kriegsfolgen. Kommissionspräsidentin von der Leyen hat schon für die Post-Corona-Nachkriegszeit einen Marshallplan angekündigt: Aufbauhilfe für eine Bevölkerung, die kein einziges Haus wiederaufbauen muss.

Aufbauhilfe für eine Industrie, die eben nicht, wie der italienische Premier behauptet, in Trümmern liegt. Der abgezogene unsichtbare Feind wird weder zerbombte Produktionsanlagen noch zerstörte Infrastruktur zurückgelassen haben. Alles wird intakt sein und bereitstehen, um von einem Tag auf den anderen den "Shutdown" in einen "Countdown" zur Wiederauferstehung unserer verschwenderischen Lebensweise zu verwandeln. Das haben wir uns nach all dem Kriegselend doch wohl redlich verdient!

Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass der angekündigte milliardenschwere "Green Deal" auf der Prioritätenliste weit nach unten und das Thermometer weiter nach oben klettern wird. Gegen einen Marshallplan ist jeder Green Deal chancenlos. Und beides gleichzeitig ist nicht zu haben.

Corona wird in die Geschichte eingehen. Nicht, weil wir einen Krieg gegen ein Virus überstanden haben. Sondern weil wir gesehen haben, wozu wir in der Lage sind, wenn wir nur wollen. Und weil wir diese historische Chance nicht dazu genutzt haben, um uns einer weit größeren Bedrohung zu stellen.

Denn gegen die globale Klimaerwärmung wird es weder einen Impfstoff noch eine Herdenimmunität geben, kein Shutdown mit absehbarem Ablaufdatum wird die Überhitzung stoppen. Die Maßnahmen zur Grenzschließung, die nötig sein werden, um Millionen von Mensche n an der Flucht aus ihren buchstäblich verwüsteten Regionen zu hindern – das ist ein Kriegsszenario, das man sich nicht vorstellen mag. (Dietmar Krug, 2.5.2020)