Queens hat Corona besonders hart getroffen.

Foto: APA/AFP/JOHANNES EISELE

Das letzte Mal sah ich Alexey im Winter. Es war ein kalter, windiger Tag, der den Hauch vom Ozean her durch die Straßen von Queens trieb, der Himmel grau und verhangen, die Donutbude, an der meine Mutter und ich vorbeigingen, als wir die Subwaystation verlassen hatten, kreischte uns in Pink und Orange entgegen, mit bestialisch fettigem Gestank von tausend Tonnen Süßzeug.

Es war unser dritter Tag in New York, wir hatten den Tag-und-Nacht-Rhythmus noch immer nicht eingefangen, in unseren Köpfen herrschten Ebbe und Flut durchwachter Stunden. "Hier habe ich immer zwei Donuts gegessen", sagte meine Mutter beiläufig, während wir weiter die heruntergekommene elende Straße namens Astoria Boulevard hinabgingen. "Wenn ich von ihm zurückging. Es hat mir nicht geschmeckt, aber ich musste mich ablenken."

Im Pflegeheim kannten alle meine Mutter, und alle grüßten sie. Mehrmals im Jahr kamen Pakete voller Mozartkugeln und Lindt-Schokolade hier an und hoben die Laune der Angestellten. Schmelzende Süße tröstet immer.

Die Welt schrumpfte

Er saß in seinem Rollstuhl, die Hände kraftlos an der Brust gefaltet, ein gut sichtbares Kreuz in den Falten des gelben Nachthemdes, und lächelte uns entgegen. Sprechen konnte er kaum noch, es war mehr ein Hauchen, das meine Mutter besser zu entschlüsseln verstand, sie war in Übung, sie kam ein- bis zweimal im Jahr hierher, sie war seine Schwester.

Nach unserer Ausreise aus der UdSSR war er jahrelang politisch verfolgt worden, und er hatte sich nie davon erholt, so lange Zeit in Gefahr geschwebt zu sein. Auch nicht, als er endlich selbst den Eisernen Vorhang hinter sich lassen konnte. Seine Erkrankung hatte ihn der Bewegung beraubt und seine Artikulation eingeschränkt, nicht aber seinen Verstand.

Die Welt schrumpfte in den Radius um sein Bett und gelegentliche Ausflüge in den Speisesaal. Seine Krankenschwester hieß Hansmattie und kam ursprünglich aus Französisch-Guayana, fast alle Pflegenden hier waren Afroamerikaner oder aus Südamerika zugewandert. Der Saal, in dem er seine Mahlzeiten einnahm, war überfüllt mit lauten Stimmen. Man erlaubte uns, separat in einem Besuchsraum zu speisen. Wir zeigten ihm Fotos von Wien, er nickte fachmännisch, als ob er jederzeit mit uns hätte kommen können.

Unbarmherzig vielfältige Seiten

Meine Mutter war glücklich, trotz allem. Bald darauf flog sie zurück und ich blieb, um an meinem Roman zu schreiben, ich hatte ein Stipendium des Deutschen Hauses erhalten und lebte in einem Apartment im Greenwich Village, in den Silver Towers. Hier waren die Gassen nicht so grau, sondern voller verlockender Schaufenster und kleiner schicker Lokale, hier, auf der anderen Seite der Stadt und einer anderen Seite New Yorks, das so unbarmherzig vielfältige Seiten hat.

Ein Ort, der sehr schnell zu neuer Haut um mich wurde, ein plötzlich vertrauter Ort. Ich schob den zweiten Besuch vor mir her. Das Leben hier war so funkelnd und unbeschwert, und ich hatte Angst, etwas falsch zu machen. Als ich endlich in der Stadt und in mir angekommen und endlich so weit war, verkühlte ich mich und wurde gebeten, ihn nicht zu besuchen – sein Zustand war zwar stabil, aber delikat.

Es verging beinahe ein Jahr, meine Mutter erwarb ihr obligates Ticket nach New York, telefonierte wöchentlich mit der Krankenschwester. Alles schien in vertrauten Bahnen zu laufen. Der Dezember begann. In Wuhan ging eine seltsame Erkrankung um, wir lasen davon und fürchteten uns aus Entfernung, aber nicht sehr.

Im März hatte sich bereits die ganze Welt verändert. In Italien brach die Hölle aus, mit Militärfahrzeugen, die Leichen ohne Verabschiedung der Angehörigen aus den Spitälern brachten. Meine Mutter und ich waren nur kurz davor in Venedig gewesen, das Gefühl, etwas Unheimlichem entkommen zu sein, hielt an.

Dann schwappte die erste Welle auch über uns. Während wir alle in den Fluten dieser ersten Welle nach Alltäglichem zu greifen versuchten, um Halt zu finden, dachte meine Mutter immer noch daran, dass der Flug stattfinden könnte.

Ein unüberquerbarer Ozean

"Halte durch", sagte die Krankenschwester beim Facetime-Anruf an meinen Onkel gewandt. "Deine Sis kommt noch." Nach Wuhan und Italien wurde es auch in Wien leer und ruhig. In New York brandete das Leben weiter. Trump machte sich über das Virus lustig oder stellte wahlweise seine Existenz infrage.

Die immer drängender werdenden Rufe aus Spitälern und Altersheimen ignorierte er in seinem buntlackierten bröckchenhaft aus seinem rosigen Mund strömenden Worterbrochenen, das zwischen lächerlich und unfassbar beängstigend changierte.

Vermutlich vertraute er darauf, dass im Falle eines Falles Reichtum die Reichen schon noch retten würde, und wer zum Teufel brauchte denn die Schwachen, Alten und Nichtwohlhabenden.

"Es wird schon", sagte die russische Sozialarbeiterin Tatjana, aber ihr Gesicht hatte einen neuen Ausdruck. "Wir haben nur einen positiv getesteten Fall hier in einer anderen Abteilung." Die anderen hatte man nicht untersucht.

Meine Mutter saß besorgt zu Hause, so wie man es ihr aus sämtlichen Medien entgegengeschrien hatte, und wusste, dass es so schnell nicht mehr werden konnte. War zuvor der Eiserne Vorhang zwischen den Geschwistern gestanden wie eine verwunschene Dornenhecke, so lag jetzt ein unüberquerbarer Ozean zwischen ihnen.

Magischer Bannkreis

New York ging bald darauf in Lockdown. Das Altersheim war nun unbetretbar geworden, im magischen Bannkreis, den Corona um es gelegt hatte. Kühlwagen parkten vor Spitälern, weil die Leichenhallen aus allen Nähten barsten, und Amerika war auf dem besten Weg, "greater" als China und Italien zusammen zu werden.

Die Welt sah zu und die US-Regierung auch. Es war nur kurz vor Donald Trumps Empfehlung, sich Bleichmittel zu injizieren, als in der Nacht plötzlich ein Facebook-Eintrag in mein Bewusstsein schlug. "Papa hat es leider nicht geschafft." Daneben ein Foto von meinem Onkel, dem so belesenen wie intellektuellen Geologen Alexey Mahmoudov, dem Mann mit muslimischen und jüdischen Wurzeln, der sich als Katholik definierte.

Die feingliedrigen Hände betend an der Brust und das kleine Kreuz zwischen den hervortretenden Schlüsselbeinen, die Augen geschlossen. Das Foto war älter, da schlief er einen Schlummer, aus dem man noch erwachen konnte. Ich versuchte fieberhaft, meine Mutter zu erreichen. Sie hob nicht ab, es war ja spät. Ich musste es ihr persönlich sagen, bevor sie morgens darauf stieß.

Endlose Spiralen

Als ich sie erreichte, war Hansmattie schneller gewesen. "Sie sterben, sie sterben alle." Es war kaum etwas verständlich von dem, was sie sagte. Sie schluchzte. Sie weinte durch das über eine Stunde währende Telefonat. "Wir können nichts tun, und sie sterben alle", das wiederholte sich in endlosen Spiralen.

"Ich habe seit Tagen nicht mehr geschlafen. Wir arbeiten hier alle über 16 Stunden am Tag. Ich bin jetzt zu Hause. Und sie sterben und sterben und sterben." In ihrer Stimme fehlte die Angst um sich selbst, vielleicht Folge eines Schocks, vielleicht einfach nur Ausdruck ihrer über alle Grenzen gehender Hingabe an die ihr Anvertrauten.

Ich tröstete meine Mutter, die zuvor Hansmattie getröstet hatte in einer seltsamen Umkehrung der Bedürftigkeit. Wir saßen in Wien, gemeinsam getrennt durch den Lockdown, aber dennoch in weit größerer Sicherheit als alle, die gerade in New York waren, zwischen all den lügenden funkelnden Schaufenstern und den grauen Gässchen, zwischen Besitzenden und Besitzlosen, zwischen den Patienten und dem unzureichend geschützten medizinischen Personal, zwischen denen, die in ihrer Verzweiflung vielleicht gerade andachten, Bleichmittel zu injizieren, all diese Verratenen und Verdammten.

Ich tröstete meine Mutter, ohne sie umarmen zu können, geisterhafte Wortberührungen tauschten wir aus. Ein Echo der Realität. Danach entzündeten wir beide je eine Kerze und gedachten. Wenn wir nach New York zurückkehrten, würde es ein neues New York sein. Aber das wäre es auch für die New Yorker. (Julya Rabinowich, 2.5.2020)