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Die Schlacht um Wien zwischen Sowjets und Wehrmacht fand im März und April 1945 statt. In der Nacht zum 12. April brannte der Dachstuhl des Stephansdoms aus.

Foto: Picturedesk.com / Hermine Grögl

Nach außen kommunizierten die Täter mit bürokratischer Kälte: "Angelegenheit wird am 7. 7. 44 erledigt", heißt es in einem Telegramm an den Volksgerichtshof in Berlin am 4. Juli 1944. Vier Tage später, am 8. Juli, dann die telegrafische Mitteilung: "Angelegenheit ohne Zwischenfall erledigt."

Gegenstand der Nachrichten ist die Tötung eines Menschen, des Zollbeamten Hugo Paterno aus Lustenau, 47 Jahre alt. Er wurde am 7. Juli 1944 im Gefängnis München-Stadelheim durch das Fallbeil hingerichtet. Im Protokoll wird auch die Hinrichtungszeit genau vermerkt: "von der Übergabe an den Scharfrichter bis zum Fall des Beiles neun Sekunden".

Auf das Kriegsende hatte Hugo Paterno vergeblich gehofft: "So Gott will, gibt es doch einmal ein Wiedersehen?", schreibt er, wenn auch zögernd mit einem Fragezeichen, noch zehn Wochen davor. Und schon im Oktober 1943, kurz nach seiner Inhaftierung, hat er die Hoffnung geäußert: "Vielleicht kommt auch der ersehnte Endsieg bald …" Dass er unter "Endsieg" etwas anderes verstand, liest man zwischen den Zeilen. Eine Woche vor der Hinrichtung blickt er noch "siegesbewusst der Zukunft entgegen". Aber da ging der Krieg noch lange weiter.

Hugo Paterno ist der Großvater des Profil-Redakteurs Wolfgang Paterno, ein Unbekannter ohne "klares Bild", mit dem den Enkel bestenfalls "Emotionen aus zweiter und dritter Hand" verbinden. In der Familie wurde wenig über ihn geredet, er war wie ein "Phantom", bekundet der Autor im Gespräch, und dass er sich den Großvater gleichsam erst "erschreiben" musste. Das Fehlen einer "greifbaren Erinnerung", einer Erzählung liegt aber auch darin begründet, dass die Gesellschaft nach 1945 mit Widerständlern wenig zu tun haben wollte. So blieb er der ferne Verwandte, der "Opa ohne Kopf".

Der "Opa ohne Kopf"

Es hat lange gedauert, bis sich der Enkel mit der Geschichte seines Opas auseinanderzusetzen begann. Dabei war das eigentliche Dokument des großväterlichen Schicksals die ganze Kindheit über präsent – ein mit lila Schleife verschnürtes Briefbündel, das als "Zierschmuck" auf einer Kommode im Vorarlberger Elternhaus lag: "Hugos Haftbriefe aus Innsbruck, Berlin und München", die Stationen der letzten zehn Monate seines Lebens.

Hugo Paterno, der Sohn italienischer Einwanderer, war nicht der klassische Widerstandskämpfer, er war ein zutiefst religiöser Mensch und er hat mehrmals in seinem Leben im falschen Augenblick am falschen Ort laut gedacht. Im Oktober 1938 wird er zum ersten Mal denunziert, da geht die Sache noch glimpflich aus.

Äußerungen gegen das Naziregime, die er im April 1940 tätigt, haben schon gravierendere Folgen: Versetzung nach Innsbruck und eine empfindliche Gehaltskürzung. Doch 1943 geht es um mehr: staatsabträgliche Äußerungen, Vorbereitung zum Hochverrat, Wehrkraftzersetzung …

Das Verhängnis nimmt am Morgen des 29. Juli 1943 seinen Lauf. In dem Tiroler Grenzort S. muss der Zollsekretär Paterno eine Revision im Tabakverschleißgeschäft von Rosa R. vornehmen. Und wieder redet er zu viel. Es sind Äußerungen, wie es später heißt, die sich Rosa R. als gestandene Nationalsozialistin nicht gefallen lassen kann. Der Fall landet schließlich bei der Gestapo. Von da an ist Hugo Paternos Schicksal besiegelt.

"Angelegenheit" erledigt

"Lange Zeit", schreibt Wolfgang Paterno, "bin ich nicht auf die Idee gekommen, dass er in Wahrheit ein Held meines Lebens ist." Als der Enkel an dem Buch zu schreiben beginnt, kann er niemanden mehr in seiner Familie befragen. Wer noch lebt, sind die Kinder der Denunzianten, aber die wollen nichts wissen, das "Hitlerzeug", bekommt der recherchierende Enkel zu hören, interessiere sie nicht.

Der Sohn jener Trafikantin, die Hugo Paterno letztlich am Gewissen hat, lässt ein Gespräch erst gar nicht zu. Er müsse "nicht mehr argumentieren", bekundet Adolf R. geradezu selbstsicher. "Für mich ist die Sache erledigt. Auf Wiederhören." Auch noch siebzig Jahre danach: die Sache, die "Angelegenheit", die innerhalb von neun Sekunden "erledigt" wurde. Dieselben Worte.

Akteneinsicht verwehrt

Aber mehr noch als solche Reaktionen hat den Autor das präpotente Verhalten jener Institutionen wütend gemacht, die ihm lange genug jede Einsicht in den Fall betreffende Akten verwehrten. "Insofern", sagt Paterno, "näherten sich Vergangenheit und Gegenwart auf unheimliche Weise einander an: Die Historie wurde von einer ignoranten Gegenwart verleugnet."

Und das wiegt umso schwerer, als das Bedrückende an dieser Geschichte gerade die Selbstverständlichkeit ist, mit der sich die menschliche Niedertracht äußerte und wie schnell damit ein Menschenleben zerstört werden konnte. Hugo Paternos Frau steht damals mit vier minderjährigen Kindern da. Als sie die Denunziantin in einem Brief bittet, ihre Aussage zu überdenken, lässt diese sie kalt abblitzen: Als Beamter hätte er eben wissen müssen, was er sagen darf.

Hugos Innsbrucker Zimmerwirtin kommt sogar persönlich nach S., aber Rosa R., "die überzeugte ortsbekannte Nationalsozialistin", eine rachsüchtige Scharfmacherin, wie es später über sie heißen wird, fährt sie zornig an. Hugos Hinrichtung, schreibt der Enkel, war ihr egal, ihr Geschäft war die "Gehässigkeit".

Nach dem Krieg wird sich Rosa R. abschütteln, von einer "dummen Angelegenheit" sprechen, und vor Gericht wird sie aussagen, sich an das alles nicht mehr genau erinnern zu können, da sie "seither zu viel mitgemacht habe". Und schließlich: "Ich fühle mich völlig unschuldig."

Abschiedsbrief an die Familie

Auch an den "Führer" schrieb Maria Paterno ein Gnadengesuch, es sind peinliche Zeilen eines "brechenden Frauenherzen": "Mein Führer, die vier Kinder und ich glauben und wissen, dass Sie nicht die Vernichtung wollen, sondern das Leben." Was für ein Satz! Auch jedes der vier Kinder, zwölf, elf, acht und sieben Jahre alt, "bittet den Führer um das Leben meines Vaters".

Maria hat ihren Mann vom Augenblick der Verhaftung an nicht mehr gesehen. Anfangs wollte er nicht, dass sie ihn im Gefängnis besucht: "Es würde bestimmt mir und dir das Herz abdrücken." Kurz vor der Hinrichtung wird ihr beschieden, dass "die Erteilung eines Sprechtermins nicht mehr in Frage" komme.

Am Tag seiner Hinrichtung schreibt Hugo seinen Abschiedsbrief an die Familie, bis zuletzt ist er der korrekte Beamte: "Bitte laßt mich nur am Grabstein anführen! Im Übrigen gebt kein Geld aus!" Und als ob das noch wichtig wäre: "Dein Paket dankend erhalten. Euer Vater. Dein Hugo."

Wolfgang Paterno, "So ich noch lebe … Meine Annäherung an den Großvater. Eine Geschichte von Mut und Denunziation." 24,90 Euro / 304 Seiten. Haymon-Verlag, 2020
Cover: Haymon-Verlag

Später, auch noch nach 1945, bleibt Maria Paterno "die Last von Scham und Schande, Witwe eines ‚Volksverräters‘ zu sein". Dessen Leiche wird ihr nicht zur Bestattung übergeben, Hugo Paterno landet in der Anatomie, und als Maria am Familiengrab ein Kreuz für ihn mit einem Porträtbild aufstellen lässt, wird dieses auf Anweisung des Bürgermeisters umgehend entfernt. Später verblasst sein Bild, und der "ferne Verwandte mit abgetrenntem Kopf" wird irgendwann auch in der Familie "totgeschwiegen".

Rufmord an der Tagesordnung

Auf Nachfrage bemerkt der Autor, dass die Familie nicht im Erzählen Trost gesucht habe. Er selbst hat das Schicksal des Großvaters als Ein-Satz-Geschichte vernommen: "Opa wurde an einem Kiosk von Rosa R. verraten und kurz darauf hingerichtet." Erst später wird ihm bewusst, dass diese Geschichte "für die Unkultur des Rufmords" steht, der damals an der Tagesordnung war.

Dass der Name der Denunziantin (wie anderer beteiligter Personen) im Buch abgekürzt wird, hat nichts mit Rücksichtnahme zu tun. Er wollte den Großvater in Erinnerung rufen, nicht die Täter, bemerkt Wolfgang Paterno. "Dass deren Geschichten im Orkus der Historie verschwunden sind, ist Abrechnung genug."

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Blick auf den Steffl und das zerbombte Wien Ende des Zweiten Weltkriegs 1945.
Foto: Picturedesk / ÖNB-Bildarchiv / Walter Lämmermann

Ganz anders die Geschichte, die ZiB-Moderator Tarek Leitner von seiner Familie, in erster Linie von seinem Vater erzählt – eine Geschichte, in der nie geschwiegen wurde, im Gegenteil, hier ist das Erzählen sogar das tragende Element und der Dargestellte selbst die Auskunftsperson, denn Tarek Leitner hat seinen Vater mehrmals interviewt, und der hat offenbar gern erzählt: wie er mit zwölf auf der Reichsautobahn den neuen Wagen seines Vaters lenkte und wie er sieben Jahre später vor dem Krieg davonlief und die Strecke Berlin–Linz ein zweites Mal zurücklegte.

Für Alfred Leitner ist es die entscheidendste "Reise" seines Lebens, als er sich kurz vor Ende des Krieges, mit einem Granatsplitter im Bein, von der sich auflösenden Truppe absetzt und auf den Weg nach Hause macht. Der junge Soldat, der das Töten aus nächster Nähe erlebt hat, muss sich seinen Weg über Leichen bahnen.

Genau genommen ist er ein Deserteur, aber diesen Begriff, berichtet Tarek Leitner, habe sein Vater nie verwendet, "er wollte bloß der Situation entkommen". Er hatte Glück, so viel, dass er später bekundete, er habe sein ganzes Glück im Krieg aufgebraucht.

Mitten im Zeitgeschehen

Für Tarek Leitner ist der Vater kein Held, kein Opfer und auch kein Täter. "Mit anderen Worten, er war keine jener Figuren, die mir aus dem Geschichtsunterricht bekannt waren." Und doch war er mitten im Zeitgeschehen. Signifikant der Wohnort: Linz, Bischofstraße 3, ein Haus als "Brennglas der Geschichte".

In der Wohnung über den Leitners lebt die Familie von Adolf Eichmann, 1945 bezieht Simon Wiesenthal hier eine Wohnung. Nur zwei Häuser weiter das Zuckerlgeschäft der jüdischen Familie Schwager, eines der ersten, die in der Stadt "arisiert" wurden.

Die Leitners sind eine gutbürgerliche Familie, der Großvater Rudolf ist Uhrmacher und hat eine ausgeprägte Leidenschaft für den Motorsport. Er begreift sofort, wie sich die Welt am Beginn des 20. Jahrhunderts durch die Motorisierung radikal verändert. Das war auch ein Katalysator für die beiden Weltkriege, die faschistische Ideologie hat diesen Wandel zu nützen gewusst. Doch so sehr die Leitners von der Motorisierung und der neuen "Reichsautobahn" fasziniert sind, der Faszination für die NS-Bewegung sind sie nicht erlegen.

Dabei war die "neue Zeit" gerade für Motoristen gemacht: Im Juni 1938 begibt sich Rudolf Leitner nach Berlin, um dort persönlich sein neues Auto abzuholen, ein DKW, 32 PS. Der Sohn ist mit dabei und erfährt auf der Fahrt nach und von Berlin so ziemlich alles, was man über das goldene Zeitalter der Mobilisierung wissen muss. Und sie lernen an einem Tag Berlin kennen, ohne zu begreifen, dass aus der einst weltoffenen Stadt längst eine braune Provinz geworden ist.

Zurück mit einem Waffenrad

Und dann der Schnitt durch die Geschichte. 1945 kommt der Wehrmachtssoldat Alfred Leitner noch einmal nach Berlin. Das Staunen ist verschwunden, die Stadt ein Ruinenfeld, und die große Welt, die sich wenige Jahre zuvor den zukunftsfrohen Automobilisten aufgetan hat, ist eine wunde Landschaft.

Durch diese flieht der 19-Jährige und kehrt ausgerechnet auf demselben Weg nach Linz zurück wie damals. Nur ist es nicht mehr das nagelneue Auto des Vaters, das er selbst chauffieren durfte, diesmal steht ihm nur ein einfaches Waffenrad zur Verfügung. Keine Rede mehr vom Rausch der neuen Geschwindigkeit auf der Autobahn.

Nun ist es eine Geschichte des Überlebens und des Augenblicks, wo alles neu anfängt. "Ich wollte endlich aus der Zeit entlassen werden, sagte er, eine neue Zeitrechnung beginnen." Das bedeutete, es war nicht "fünf vor zwölf", es war "fünf vor null".

Doch die Stunde null am 8. Mai hat Alfred Leitner gar nicht mitbekommen. Erst ein oder zwei Tage später erfährt er, dass der Krieg vorbei ist: Er hört es aus dem Gespräch zweier deutscher Soldaten, die unweit von seinem Versteck von Russen aufgespürt werden. Dabei geschieht, was auch in den Tagen nach dem Krieg noch so oft geschah, und die beiden Soldaten werden kurz darauf, wenige Meter von ihm entfernt, erschossen. Ein Leben lang bleiben ihm die Schüsse im Ohr.

Wieder zu Hause in Linz prägte sich ein anderer Augenblick ins gerettete Leben. In seinem Zimmer, fiel dem Heimkehrer auf, war die Pendeluhr stehen geblieben. Sinnbild jener Stunde null, die so viele nicht mehr erlebten. Alfred Leitner lag schon im Bett, aber er stand noch einmal auf und ging zu der Uhr. "Und als ich sie aufzog, dachte ich, jetzt muss ich das Leben neu beginnen." (Gerhard Zeillinger, 2.5.2020)

Tarek Leitner, "Berlin–Wien. Wie mein Vater sein Glück verbrauchte". 30,– Euro / 241 Seiten. Brandstätter-Verlag, Wien 2020
Cover: Brandstätter-Verlag