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Im Bildungsministerium hat man ein ganzes Handbuch mit neuen Verhaltensregeln erarbeitet. Sogar in den Pausen will jetzt an die Gesundheit gedacht werden. Stichwort Händewaschen, Abstand halten, Maske tragen. Die Schülerinnen und Schüler sollen bereits mit einem Nasen-Mund-Schutz in die Schule kommen, in den Pausen bleibt die Pflicht zur Maske nur für über Zehnjährige aufrecht.

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Im Gastkommentar erhebt Psychotherapeutin Anna Werksnies ihre Stimme für den Kinderschutz. Sie sieht durch die aktuell geltenden Maßnahmen im Kampf gegen das Coronavirus die psychische Gesundheit von Kindern gefährdet. Vor allem Schulen sollten enge zwischenmenschliche Beziehungen wieder ermöglichen und erlebbar machen.

Schon vor sieben Wochen, seit dem Shutdown, war klar, dass dieser Moment kommen würde: Die Schulen müssen irgendwann wieder den Betrieb hochfahren. Jedoch hat es auch kurz vor der Wiederöffnung der Schulen eher den Anschein, als würde sich das Bildungsministerium von Tag zu Tag hangeln und – von grauer Theorie geleitetet – Vorgaben mit der Mentalität "So wird es gemacht" an die Schulen delegieren. Jegliche Anmerkung oder gar Kritik von Direktorinnen und Direktoren, Lehrerinnen und Lehrern oder betroffenen Eltern wird stillschweigend in das Postfach "egal" verschoben. Unabhängig jedoch von den verqueren Vorgaben, die nicht praktikabel sind, wird in keiner Weise darauf eingegangen, wie es wohl vielen Kindern mit den getroffenen Maßnahmen ergeht.

Beziehungsmangel der Kinder steigt

Die Beziehung zu Lehrpersonal spielt besonders für Kinder unter zehn Jahren eine wichtige entwicklungspsychologische Rolle. Lehrerinnen und Lehrer sind für eine gewisse Zeit Vorbilder, Mentoren und Bezugspersonen. Eine plötzliche Trennung von Struktur und dem Kontakt zu jenen Personen können Kinder zwar kognitiv bis zu einem gewissen Grad verstehen, das emotionale Fehlen dieser Beziehung ist allerdings schwer in Worte zu fassen. Natürlich haben es hier Kinder aus gutsituierten, finanziell abgesicherten Familien leichter. Zeit, Entspannung und Geduld der Eltern spielen eine zentrale Rolle. Sie können diesen Verlust schon irgendwie verarbeiten. Bei Kindern aus instabilen familiären Verhältnissen sieht das anders aus: Fehlende Routine, fehlender Austausch, fehlende Bezugssysteme, fehlende Rückmeldung durch das Lehrpersonal können mitunter drastische Auswirkungen haben.

Warum Beziehung so wichtig ist

Ein Kind erkennt sich durch den engen zwischenmenschlichen und persönlichen Kontakt mit Erwachsenen und Kindern wieder und entwickeln dadurch einen Teil seiner Persönlichkeit. Menschen spiegeln Menschen wider. Ihre Stärken, ihre Schwächen, welches Verhalten erwünscht oder welches unerwünscht ist. Kinder lernen sich durch den Kontakt zu Beziehungspersonen selbst kennen und entwickeln dadurch ihr Selbstbild. Je aufmunternder, unterstützender und positiver diese Beziehungspartner agieren, desto besser können Kinder für die eigene Zukunft profitieren.

Hierbei leistet die Schule als Institution einen wesentlichen Beitrag, damit aus Kindern stolze, selbstbewusste und leistungsstarke erwachsene Menschen werden. Somit ist es ganz klar, dass ein solcher Beziehungsabbruch oder auch die geplante, stark eingeschränkte Beziehungsgestaltung sehr sorgsam und achtsam abgewogen werden müssen.

Aus entwicklungspsychologischer Sicht muss die Institution Schule enge zwischenmenschliche Beziehungen wieder ermöglichen und erlebbar machen. E-Learning bringt bei unter Zehnjährigen Einsamkeit, Abgrenzung und Isolation. Die Anwendung digitaler Medien im Volksschulalter wirkt sich stark nachteilig auf den Erwerb notwendiger Social Skills im Erwachsenenalter aus. Es fehlen wichtige Ressourcen: Mimik, Gestik, Stimmlage und Verhalten geben den Kindern ein Feedback. Besonders stark davon betroffen ist die emotionale Bindung, an welcher Kinder reifen. Beziehung braucht Nähe und Zeit.

Außerdem: Eine Lehrerin oder ein Lehrer als Vorbild oder Vertrauensperson zu haben wirkt präventiv in schwierigen Lebenssituationen und fungiert auch im Bereich Kinderschutz. Lehrerinnen und Lehrer erfahren sehr häufig als Erste von dysfunktionalen Familienverhältnissen.

Schoolfox, Anton, Zoom et cetera vs. reale menschliche Beziehung

Die eigenen Emotionen als Beziehungsgrundlage benennen und auch mitteilen zu können ist eine Fertigkeit, die nicht digital vermittelt werden kann. Jedoch sichert diese Fähigkeit, nachhaltige zwischenmenschliche Bindungen aktiv, bewusst und stabil leben zu können. Sie ist Grundbaustein für sozial funktionierende Gesellschaften. Beziehungsarmut fördert Über-Individualismus, egozentrisches Denken und Orientierungslosigkeit im Bereich zwischenmenschlicher Interaktionen. Das Gespür für sich und den anderen Menschen verkümmert. Ob die Regierungen in Europa oder auf der ganzen Welt einen solchen psychosozialen Kollateralschaden durch Corona in Betracht ziehen oder nicht, entscheidet über die nächste Generation von Menschen. Davon wird es abhängen, ob wir eine mit dem sozialen Gedanken verbundene Gesellschaftsform leben oder ob die zukünftige Gesellschaft aus vielen zurückgezogenen, isolierten und abgegrenzten Alleinkämpfern bestehen wird.

Ein Appell an den Kinderschutz

Die Sicherheitsmaßnahmen im Kampf gegen Covid-19 müssen sorgsam und mit größter Vorsicht und Nachsicht vollzogen, beobachtet und evaluiert werden. Beziehungsarmut der Kinder muss auch in Zukunft so gering wie möglich gehalten werden. Kinder haben das Recht auf Gesundheit und somit auf Beziehungen. (Anna Werksnies, 3.5.2020)