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In eine häusliche Hölle, die eine zivilisierte Fassade wahrt, führt uns Tetiana Trofushas Novelle "Coming Home", die erweiterte Fassung einer ursprünglich 2018 veröffentlichten Kurzgeschichte. Hier wird ein Abendessen für zwei Personen so penibel geplant wie die Landung in der Normandie, die Beschwerde des Ehemanns über die ungesalzene Suppe ist der Super-GAU, und die Erkenntnis, dass er gelogen hat (es war ja doch Salz drin!), fühlt sich an, als hätte sich die Realität selbst aufgelöst. Das Genre übrigens: Science Fiction, auch wenn man es dieser Kurzbeschreibung nicht anmerken würde. Doch Trofushas Erzählung zeigt erst spät ihre wahren Farben.

Gefangen

Biographisches zur Hauptfigur Jin erfahren wir kaum. Sie sei ein weltberühmtes Supermodel gewesen, das bis vor einem Jahr noch um den Globus reiste. Nun jedoch ist Jins Welt entsetzlich klein geworden. Jin leidet an extremer Agoraphobie – sie kann ihre Wohnung nicht verlassen, ja sich nicht einmal der Eingangstür nähern.

Die Spitzen ihrer Pumps berührten die Kante der fünfzehnten Marmorplatte von der Haustür aus. Jede Platte maß dreißig Zentimeter. Vier Meter fünfzig trennten sie vom Hausflur. Sollte sie es riskieren? [...] Drei Meter neunundfünfzig. Achtundfünfzig. Siebenundfünfzig. Sie begann zu zittern. Sechsundfünfzig. Fünfundfünfzig. Stechender Schmerz brachte sie aus der Konzentration.

Dunkle Boten der Außenwelt

In diesem Mikrokosmos taucht Jins Ehemann Adan, der CEO irgendeines Unternehmens, jeden Abend auf wie ein strahlender Stern. Jins ganzes Denken und Handeln kreist darum, es ihm rechtzumachen. Sie lebt in einer Mischung aus Hingabe und Angst – doch es ist auch eine unverkennbare Komponente von Aggression im Spiel, von beiden Seiten. Zwar gibt es zumindest vorerst keinen Beleg für physische Gewalt – aber hat sich Jin die Schnittwunden an ihren Beinen wirklich selbst zugefügt, oder steckt doch er dahinter? Manipulativ ist Adan ganz bestimmt, und wenn Jin einen Fehler macht, verbannt er sie ins Nebenzimmer wie einen ungehorsamen Hund.

Zugleich ist Adan nur einer von mehreren externen Faktoren, die in Jins Welt einbrechen und allesamt außerhalb ihrer Kontrolle liegen. So taucht ein schmieriger Paketlieferant auf, der Jin zu vergewaltigen versucht. Die Box, die er zurücklässt, birgt einen makabren Inhalt, wie sich zeigen wird. Und stets ist es nur das Draußen, das auf das Drinnen einwirkt. Jin scheint keine Chance zu haben, ihrerseits auf die Außenwelt Einfluss zu nehmen: Die Wohnung kann sie nicht verlassen und Zugang zum Netz hat sie auch keinen (ein weiteres Detail, das ein befremdliches Licht auf ihre Situation wirft).

Intensives Kammerspiel

Das Geschehen mündet in einen Twist, der mich ehrlich gesagt kein bisschen überrascht hat. Was aber ganz einfach daran liegt, dass "Coming Home" in einem SF-Verlag erschienen ist. Und Science Fiction bietet nicht einfach nur ein breiteres Repertoire an Erklärungsmöglichkeiten für seltsame Vorkommnisse, als es ein Psychothriller könnte. Sie legt unwillkürlich auch gewisse Muster nahe. Allerdings hat Trofusha die "entsetzliche Eröffnung" nicht als Schlusspointe gesetzt. Die letzten Seiten bleiben wegen Jins unvorhersehbarer Reaktion darauf spannend.

"Coming Home" ist wie eine gut gemachte Folge der "Twilight Zone". Da die Geschichte nicht mit dem Knalleffekt der obligatorischen Schlusspointe endet, sondern noch ein bisschen darüberhinausdenkt, könnte einem sogar "Black Mirror" dazu einfallen. Und etwas in der Art könnte auch noch daraus werden, wenn es nach Trofushas Kurzbio im Buch geht. Demnach ist sie eine in Deutschland aufgewachsene Autorin, die derzeit an der Filmakademie studiert und bereits die dritte Version ihres Kammerspiels ins Auge gefasst hat: diesmal als Film.