Die aktuelle Krise hat unter Ökonomen und Politikern zu einer regen Debatte über die Globalisierung geführt. Vor allem globale Lieferketten, aber auch Risiken durch Lebensmittel- und Medikamentenproduktion im Ausland stehen im Fokus.

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Zuerst kam der Tsunami, dann die Nuklearkatastrophe von Fukushima. Das Tohoku-Erdbeben am 11. März 2011 hat sich tief in das japanische Nationalgedächnis eingebrannt. Nicht nur wegen der zehntausenden Toten, sondern auch wegen der wirtschaftlichen Schäden. Wochenlang stand die japanische Industrie zum Teil still, so die Werke der Autobauer Toyota, Honda, Mazda und Nissan.

Vier Jahre später machte eine Gruppe von Ökonomen beim Versuch, die Schäden der Katastrophe in der Autoindustrie zu vermessen, eine interessante Entdeckung. Durch den Tsunami brach die Wertschöpfung in der globalen Automobilindustrie um 140 Milliarden Dollar ein. 40 Prozent dieses Verlusts trafen japanische Produzenten, rechneten Valeria Andreoni von der Manchester Metropolitan University und ihre Kollegen vor. Der Rest verteilte sich quer über den Globus. Der Ausfall bei japanischen Zulieferern sorgte für einen Milliardenschaden bei Autoherstellern in den USA, Europa, China und Kanada.

Ein regionaler Produktionsstillstand kann sich also durch globale Zulieferketten fressen und dadurch noch viel dramatischere Schäden anrichten. Aber was, wenn der Ausfall nicht eine Region trifft, sondern die ganze Welt, wie in der Corona-Pandemie?

Back to the roots

Die aktuelle Krise hat unter Ökonomen und Politikern zu einer regen Debatte über die Globalisierung geführt. Vor allem globale Lieferketten, aber auch Risiken durch Lebensmittel- und Medikamentenproduktion im Ausland stehen im Fokus. Das Motto vieler Wortmeldungen: Back to the roots.

Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) kündigte diese Woche an, in die regionale Wirtschaft investieren zu wollen. Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck pocht darauf, dass die Abhängigkeit von Zulieferern aus China bei Medikamenten reduziert werden müsse.

Ökonomen rechnen damit, dass sich vorhandene Tendenzen zur Deglobalisierung, Stichwort Brexit, verstärken werden. Das Peterson Institute in Washington spricht von "Slowbalisation" statt Globalisation. Die Corona-Pandemie führe vor Augen, dass Lieferketten unsicher seien, und werde Unternehmen dazu bewegen, über Reregionalisierung nachzudenken.

Stärke bei Sondermaschinenbau

Die Entwicklung scheint solchen Prognosen recht zu geben. Nach anfänglichen Produktionsausfällen in China ist aktuell vor allem Europa betroffen. Allein der Stillstand in Norditalien betrifft den ganzen Kontinent: Italiens Unternehmen sind große Zulieferer für die deutsche Autoindustrie. Sie sind aber auch im Sondermaschinenbau stark, zählen zum Beispiel zu den Marktführern bei Abfüllanlagen für die Konsumgüterindustrie, sagt Oliver Babanejad, ein Supply-Chain-Experte aus Österreich. Auch in Spanien standen hunderte Betriebe still. Das hat Spuren hinterlassen.

Laut einer Erhebung der Industriellenvereinigung in Österreich unter 200 Betrieben rechnen 20 bis 40 der Unternehmen damit, dass sie beim Hochfahren ihrer Produktion in den kommenden Wochen Schwierigkeiten haben werden, und zwar wegen der Beeinträchtigung der internationalen Lieferketten. Unter Betrieben, die nur von österreichischen Zulieferern abhängig sind, liegt dieser Wert laut dem Chefökonomen der Industriellenvereinigung, Christian Helmenstein, bei nur zehn Prozent.

Die Umfrage drücke zwar nur eine Erwartungshaltung aus, sagt Helmenstein. "Aber die Firmen sind mit ihren Zulieferern in Kontakt, machen sich also ein Bild." In Deutschland brachte eine Befragung der IG Metall ein ähnliches Ergebnis. In der Automotivindustrie geben 45 Prozent der Betriebe an, dass ihre Lieferketten gestört sind. In der Metallindustrie ist es ein Viertel.

Nicht jede Theorie überlebt die Krise

Allerdings deutet einiges darauf hin, dass die These von der Deglobalisierung übertrieben ist. Dieses Bild ergibt sich, wenn man mit Unternehmensberatern, Produktionsexperten und Werksleitern spricht. In jeder Krise werden Theorien darüber aufgestellt, was die Veränderungen in der Zeit danach sein werden – nur wenig tritt ein. Es kann gut sein, dass es auch mit der Erzählung von der Reregionalisierung so kommt.

Das hat mehrere Gründe. Zunächst hat sich die Kostenstruktur in den vergangenen Tagen verändert. Der Ölpreis, der oft mehr als 50 Prozent der Transportkosten im globalen Schiffsverkehr ausmacht, ist seit Jahresbeginn um gut 70 Prozent gefallen. Waren quer über den Globus zu verschiffen ist aktuell so günstig wie lange nicht mehr.

Demgegenüber sagen Produktionsexperten, dass es für Unternehmen zu teuer ist, ihre Lagerkapazitäten dramatisch zu erweitern, um sich von Lieferengpässen unabhängiger zu machen. Grund und Boden zu kaufen, um Produkte vermehrt einzulagern, zahle sich nur noch bei wenigen hochwertigen Produkten wie iPhones aus, sagt der Vorstand eines österreichischen Unternehmens in Brasilien. Hinzu kommt, dass es einen Grund dafür gibt, wenn Betriebe in Asien oder Südamerika produzieren lassen: Meist ist dort die Produktion günstiger.

Wieder entspannte Lage

Wer also weniger Waren durch die Welt schippern lässt, muss mehr zahlen, was in weiterer Folge die Kunden spüren. Und die Konkurrenz schläft nicht. Der Unternehmensberater Rupert Petry, der Vorstände von Industriebetrieben in Österreich strategisch berät, glaubt deshalb, dass nur ein Bruchteil der Firmen über Reregionalisierung überhaupt nachdenken wird. Und: "Niemand erwägt, Produktion im großen Stil nach Österreich zurückzuholen. Wenn überhaupt, geht es um Verlagerungen innerhalb Europas."

Tatsächlich hat sich die Sicht auf den europäischen Binnenmarkt wieder entspannt. Der Eindruck, dass die Globalisierung am Wendepunkt sei, hatte sich ja noch durch dramatische Bilder aus den ersten Wochen der Corona-Pandemie verschärft, als es lange Lkw-Schlangen an den europäischen Binnengrenzen gab.

Doch die Schlangen sind kürzer geworden oder ganz verschwunden. Zunächst erregten Schreckensmeldungen Aufsehen, etwa über eine Lkw-Ladung mit Schutzausrüstung für Österreich, die an der deutschen Grenze festgehalten wurde, weil der Zoll die Ware nicht durchließ. Deutschland hatte die Ausfuhr medizinischer Güter zuerst untersagt und dann genehmigungspflichtig gemacht.

Inzwischen wurden solche Beschränkungen aufgehoben – und manches erwies sich als übertrieben dargestellt. Besagter Lkw, versichern deutsche Regierungsvertreter dem STANDARD heute, sei nie an der Grenze angehalten worden. Es habe bloß ein paar Tage gedauert, bis die Genehmigung erteilt worden sei.

Ist es eine gute Nachricht, wenn der Abgesang auf die Globalisierung verfrüht war? Die wirtschaftliche Vernetzung Chinas, Indiens und anderer Länder gilt laut Weltbank als das größte Antiarmutsprojekt der Welt. Hunderte Millionen Menschen ließen das Elend – nicht nur, aber auch dank Globalisierung – hinter sich.

In offenen Volkswirtschaften wie Österreich gründet ein großer Teil des Wohlstands ohnehin auf der internationalen Vernetzung. Dass mehr Handel auch eine Belastung für Klima und Umwelt bedeutet, ist eine andere Wahrheit. (András Szigetvari, 2.5.2020)