Sebastian Kurz und Angela Merkel bleiben in der Coronavirus-Krise ihren stark unterschiedlichen Regierungsstilen treu

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Es ist ein dramatisches, in Österreich nie gesehenes Bild, das die Pressekonferenz der Regierung am 6. April bietet: Die derzeit wichtigsten Minister marschieren auf, ihnen voran Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP), alle mit Mund-Nasen-Maske. Es ist die Woche, in der die Verhüllung im Supermarkt zur Pflicht wird – und Kurz schreitet als Primus inter Pares voran, auch wenn er Masken im Kampf gegen das Corona-Virus noch kurz zuvor als relativ sinnfrei bezeichnet hatte.

Von Angela Merkel (CDU) existieren keine Fotos mit Schutzmaske. Als sie unlängst von Journalisten um Informationen gebeten wurde, wie sie denn nun ihr Privatleben regle, welche Einschränkungen es gebe, da glich schon die Frage einer kleinen Frevelei.

Sie gebe natürlich keine Auskunft über ihr Privatleben, antwortete die deutsche Kanzlerin: "Wo ich jetzt genau meine Minuten verbringe, sage ich Ihnen jetzt nicht. Ich habe mich jedenfalls an alle Regeln gehalten, die verhängt worden sind."

Kein Wort zu ihrem Familienleben, keine Info darüber, wie sie und ihr Ehemann Joachim Sauer mit dessen Kindern und Enkeln kommunizieren.

Die Oma umarmen

Bei Kurz ist das ganz anders. Sogar in der Jubiläumsrede zu 75 Jahren Zweite Republik kam er auf seine eigene Familie zu sprechen. "Am Anfang, da war es noch okay, über Handy und Video in Kontakt zu bleiben", so Kurz in seiner Fernsehansprache. Aber dann sei es schwer geworden, die eigenen Eltern und die eigene Oma nicht in die Arme schließen zu können.

Die Kurz’sche Familie spielte schon in seinem ersten Wahlkampf als ÖVP-Chef eine prominente Rolle. Verwandte und langjährige Freunde erzählten in Werbeclips über den "Sebastian", unterlegt mit Kinderfotos des damaligen Außenministers.

Von Merkel gibt es keine Homestorys – die Anlässe, bei denen sie mit ihrem Ehemann auftritt, sind absolut überschaubar.

Hingegen erlaubt die Biografie des Kanzlers ihm, verschiedene Identitäten zu präsentieren: Er ist der junge Bub, der viel Zeit auf dem Bauernhof seiner Oma im Waldviertel verbracht hat. Gleichzeitig ist er der Wiener, der weiß, wie es ist, wenn der eigene Vater arbeitslos wird. Das Jonglieren mit den verschiedenen Rollen führte im Wahlkampf zu Häme der Rivalen, kommt bei vielen Wählern aber gut an.

Ihr Privatleben behält Merkel zwar für sich: Die Anzahl ihrer Pressekonferenzen hat aber auch sie stark erhöht. Sie erklärt nicht, sie sagt nicht, was sie genau meint – das wurde ihr lange Zeit vorgeworfen. Derzeit jedoch, in ihrem 15. Jahr als Bundeskanzlerin, spricht sie so viel zu den Deutschen wie noch nie zuvor.

Sie tut dies in ihrer gewohnt unaufgeregten und sachlichen Art, Kampfrhetorik à la Emmanuel Macron ("Wir sind im Krieg") würde ihr nicht über die Lippen kommen. Das würde die Bürgerinnen und Bürger auch ziemlich verwirren. "Glaubwürdigkeit und Vertrauen sind in diesen Tagen zentral, und das sind tatsächlich zwei Aspekte der Regentschaft Merkels, die sie gehegt und gepflegt hat, wo immer es ging", sagt Thorsten Faas, Politologe an der Freien Universität Berlin.

Noch kein Merkel-Interview

Auch Kurz war schon immer präsent, stärker noch als Merkel. Als der Nationalrat ihm, als erstem Kanzler, nach dem Ibiza-Video das Vertrauen entzieht, nimmt er nicht sein Mandat als Abgeordneter an, sondern konzentriert sich auf den kommenden Wahlkampf. Er tourt durch Österreich, geht wandern, absolviert Interviewmarathons. Merkel dagegen ziert sich sogar, an einer Fernsehdebatte teilzunehmen.

Ähnlich ist das auch während der Corona-Krise: Kurz ist da, in den Wohnzimmern der Österreicher, zumindest virtuell. Mehrmals pro Woche gibt es Gelegenheiten, ihn zu erleben: bei großen Pressekonferenzen, im Nationalrat, in Interviews und Ansprachen an die Nation.

Auch im Hintergrund ist Kurz aktiv, er bringt Chefredakteure und Ressortleiter auf den neuesten Stand, bespricht sich mit Landeshauptleuten und Oppositionspolitikern – natürlich mit dem Ziel, seine Botschaft unters Volk zu bringen.

Die Kanzlerin hat während der Corona-Krise noch kein Interview gegeben. Eine Botschaft hat Merkel natürlich auch, es ist die gleiche, die von Kurz zu hören ist: Seid vorsichtig, haltet Abstand, nehmt die Situation ernst!

Doch Kurz wird nachgesagt, dass er mit der Angst der Menschen spielt – vor allem, seit ein an die Öffentlichkeit gelangtes Protokoll einer Krisenstabsitzung dies nahelegt. Die Menschen in Österreich hätten noch nicht genug Angst vor dem Virus, wird Kurz darin zitiert. Deshalb wählte er wohl drastische Worte, als die Krise schlagend wurde.

Das Virus werde "Krankheit, Leid und Tod bringen", sagte Kurz. Und: Bald werde "jeder von uns jemanden kennen, der an Corona verstorben ist". Diese Worte haben die Österreicher wachgerüttelt. Doch die Oppositionsparteien werfen dem Kanzler nun vor, auf Panikmache anstatt auf kluges Verhalten mündiger, informierter Bürger gesetzt zu haben.

Alarmismus ist Merkel jedenfalls fremd, sie ist diesbezüglich weniger Pfarrerstochter als Naturwissenschafterin. Deutlich wird ihre rationale Denkweise, wenn sie in einer Pressekonferenz den Reproduktionsfaktor ebenso nüchtern wie kundig erklärt und in der Materie sehr zu Hause zu sein scheint. Die studierte Physikerin Merkel verweist auch oft auf die Aussagen von Wissenschaftern und Virologen, sie lässt sich auch vom Chefvirologen der Charité, Christian Drosten, beraten – und diesen in der Öffentlichkeit glänzen.

Das bedeutet aber nicht, dass Merkel nicht auch eindringlich sein kann. "Alle zählen, es braucht unser aller Anstrengung. Es kommt auf jeden an", mahnte sie in ihrer Fernsehansprache vom 18. März.

In dieser machte sie – mit Hinweis auf ihre DDR-Vergangenheit – auch deutlich, dass ihr die Auflagen für die Deutschen nicht leichtfallen: "Für jemanden wie mich, für den Reise- und Bewegungsfreiheit ein schwer erkämpftes Recht waren, sind solche Einschränkungen nur mit der absoluten Notwendigkeit zu rechtfertigen. Sie sollten in einer Demokratie nie leichtfertig und nur temporär beschlossen werden." Das nehmen ihr viele ab.

Ein Unterschied zwischen ihr und Kurz liegt nicht im persönlichen Naturell, sondern in der politischen Konstellation. Merkel hat kein Durchgriffsrecht, sie ist durch den deutschen Föderalismus gebremst. Wann welche Schule geöffnet wird, wo eine Maske getragen wird, wer in welchem Abstand wen treffen darf – das entscheiden die 16 Länder.

Also bleibt der Kanzlerin die schwierige Aufgabe, zwischen diesen zu vermitteln, um den absoluten Corona-Flickenteppich zu vermeiden und zwischen "Bremsern" und "Vorpreschern" zu vermitteln.

Kurz, der Macher

Bei Kurz ist das anders: In Erinnerung wird von dieser Krise auch der unwürdige Streit zwischen Regierung und Stadt Wien rund um die Sperre der Bundesgärten in Wien (Augarten, Schönbrunn) bleiben. Und der Vorwurf, die Regierung habe andere Dinge kommuniziert, als sie rechtlich umgesetzt hat – etwa dass Besuche in Privathaushalten jederzeit möglich gewesen wären.

Zwar können sich Kurz und Merkel über glänzende Umfragewerte freuen, doch für beide gilt auch: Nach wochenlangem Ausnahmezustand wächst der Widerstand. In Deutschland sagt der Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU): "Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz des Lebens zurückzutreten, dann muss ich sagen, das ist in dieser Absolutheit nicht richtig." In Österreich fordert die Opposition schon einen U-Ausschuss, um Kurz’ Entscheidung kritisch zu beleuchten.

Und während Merkel quasi in der Nachspielzeit ihrer Kanzlerschaft ist, dürfte die Ära Kurz in dessen Augen gerade erst begonnen haben. (Birgit Baumann, Fabian Schmid, 2.5.2020)