Wien – "Glauben Sie mir, die Leute kommen schon noch." Seit den frühen Morgenstunden sitzt eine adrett gekleidete ältere Dame vor den Toren des Wiener Donauzentrums in der Sonne und beobachtet den Einzug der Kunden ins Einkaufscenter. Seit Jahrzehnten ist sie hier Stammgast. Kaum ein Tag vergeht, an dem sie sich in den Hallen des Einkaufszentrums nicht mit Bekannten zum Plausch trifft: bei schlechtem Wetter zum Aufwärmen, an heißen Sommertagen, um der Hitze der Stadt zu entfliehen.

Schlangestehen vor Ikea am ersten Einkaufstag seit dem Shutdown. In Summe hielt sich der Ansturm an Kunden in Grenzen.
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Bis Corona kam. Wie auf dem Friedhof habe sie sich vor dem Shoppingcenter in den vergangenen Wochen gefühlt, seufzt die Pensionistin, "es war einfach furchtbar." Sie habe halt gern viele Leute und Bewegung um sich. Da sie der wieder gewonnen Freiheit noch nicht recht über den Weg traut, beschließt sie, sich erst einmal einen Becher Kaffee aus dem Einkaufseldorado zu holen. Genießen will sie ihn auf einem Bankerl im Freien. "Drinnen zu sitzen ist mir wegen der Viren zu gefährlich."

Abstände schmelzen

Erst tröpfchenweise, dann immer fließender zieht ein Strom an Menschen am 2. Mai in die Wiener Einkaufszentren. Die warme Frühlingssonne bringt die behördlich verordneten Abstände von einem Meter zum Schmelzen. Ansonsten verhält sich die bunte Maskenparade vor den Geschäften diszipliniert. Geduldig wird am Tage des Neustarts großer Händler auf Einlass gewartet, der Griff zur Desinfektionsflasche ist fast schon automatisiert, das Niesen in die Armbeuge ebenso. Mitarbeiter zählen Besucher über eine Handy-App und reichen Einkaufskörbe. Die wenigen Abtrünnigen weist das Sicherheitspersonal in die Schranken. Doch das Schlangestehen vor einzelnen Handelshäusern wie Ikea täuscht: Von einem Ansturm an Kunden ist Österreichs Handel noch weit entfernt.

Luft nach oben haben die Geschäfte in der Lugner-City. An Disziplin fehlt es Kunden beim Einkaufen jedenfalls nicht.
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Nein, Einkaufserlebnis ist das keines, schickt ein junges Paar vorweg, das sich im Einkaufscenter Wien-Mitte vor einer Elektrohandelskette in lockerer Zweierreihe anstellt. Aber sie hätten eine Wohnung einzurichten und bei teuren Anschaffungen wie einer Waschmaschine stoße man online an seine Grenzen. Die beiden wollen nur das Allernotwendigste kaufen und hoffen auf Beratung. "Aber Spaß macht das beim besten Willen nicht", sagen sie und zerren entnervt am Mundschutz.

Mehr Sinn fürs Regionale

Vermisst hätten sie das Einkaufen eigentlich nicht, sinnieren zwei Kundinnen im Donauzentrum, die durch die Gänge eilen. Sie berichten von regionalen Betrieben in ihrem Gemeindebezirk, vom Bäcker bis zum Gärtner, deren Existenz ihnen erstmals bewusst wurde. Und erfreuen sich der Ersparnisse, die sich auf ihren Konten seit dem Stillstand des öffentlichen Lebens angesammelt hätten. Spontan shoppen wollen sie in nächster Zeit nicht. Es sei den Aufwand rund ums Anstellen, Masketragen und Desinfizieren einfach nicht wert.

Keine Anstrengungen scheut ein betagter Herr. Fast eine halbe Stunde vor Ladenöffnung hat er sich vor dem Rollbalken eines kleinen Barbershops an vorderster Front in Stellung gebracht. "Schauen´S mich an", sagt er entschuldigend, streicht sich ergraute Haare aus dem Gesicht und von der Jacke. Er habe in Coronazeiten gelernt, selbst zu kochen, "und das ist meiner Gesundheit wohl bekommen." Aber mit dem Haarschneiden auf eigene Faust werde das in diesem Leben sicher nichts mehr. Er hoffe, dass er nun ohne Termin nicht das Nachsehen habe.

Was vor zwei Wochen die Baumärkte, sind am 2. Mai die Elektrohandelsketten: Die Zahl der Kunden pro Quadratmeter Verkaufsfläche ist beschränkt, also heißt es warten.
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Doch der schnelle Schnitt ist ihm nicht vergönnt. Hinter ihm hat sich eine Schlange an Kunden mit Voranmeldung gebildet. Der Friseur sei längst online ausgebucht, bedauert ein junger Mann mit Blick auf den Leidgenossen vor ihm in der Reihe. Er selbst hatte das Glück einer Freundin, die sich seiner Haare seit März zwei Mal annahm. "Das Ergebnis war leider unterdurchschnittlich. Aber Sie hätten das Gesicht meiner Freundin sehen sollen, als ich ihr die Spitzen schnitt."

Ein Security-Beamter macht weitere Gespräche im Donauzentrum energisch zunichte: "Anweisung von oben. Ohne Anmeldung keine Interviews von Journalisten mit Kunden." Also auf in die freizügigere Innenstadt, deren Handel ebenso aus dem Tiefschlaf erwacht.

Einkaufen gegen Langeweile

"Wir geben es zu, uns gehen einfach die neuen Klamotten aus", räumen Teenager hier ein, die es sich auf dem Stephansplatz bequem gemacht haben und auf den Glockenschlag warten, der ihnen Punkt zehn Uhr Einlass in eine große Modekette gewährt. Klar hätten sie in den vergangenen Wochen stärker online geshoppt, "aber viele Pakete kamen zu spät oder kaputt an." Außerdem sei es wieder höchste Zeit für ein bisserl Normalität. "Einkaufen vertreibt die Langeweile."

Nachdem die Textilfiliale knapp hundert Kunden verschluckt hat, wird es allerdings wieder sehr beschaulich im Zentrum. Sportler durchmessen mit Walking-Stöcken flotten Schrittes die Kärntner Straße. Am Graben lassen ein paar Kaffeehaus-Nostalgiker in ansonsten gespenstisch leeren Gastgärten die Seele baumeln. Die Polizei stampert über Lautsprecher Radlfahrer aus der Fußgängerzone.

Fleckerlteppich an Öffnungszeiten

Der Großteil der Geschäfte präsentiert sich blitzblank herausgeputzt, ist aber verwaist. Kein Lebenszeichen zeigen die Souvenirläden des Ersten Bezirks. Auch die glitzernde Kristallwelt von Swarovski bleibt geschlossen. Auf einheitliche Öffnungszeiten einigten sich die Händler im Zentrum nicht: Diese erweisen sich nunmehr als Fleckerlteppich.

Geschäftigeres Treiben herrscht in der Mariahilfer Straße. An Hofeingängen schießen Verkaufsstände aus dem Boden, die Stoffmasken um wohlfeile zehn Euro offerieren. Einem Obststandler ist die Freude über die Wiedereröffnung der großen Handelsketten, die Kunden aus der Reserve locken, ins Gesicht geschrieben. Noch habe er Zeit zum Plaudern, was ja auf weniger Andrang als üblich hindeute, verrät der junge Mann hinter den Steigen voller Erdbeeren, Nüsse und Äpfel. Aber was noch nicht sei, könne noch werden. Er sei jedenfalls froh, endlich wieder hier zu sein und seine Stammkunden wüssten es ihm mit einem netten Plausch zu danken.

Die Lust auf Mode hält sich in Grenzen. In vielen großen Textilketten herrschte am ersten Einkaufstag seit Mitte März zeitweise gähnende Leere.
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Uhrmacher und Juwelier Ewald Pölzgruber sperrte in der Mariahilfer Straße bereits vor zwei Wochen auf. Ausgezahlt habe es sich angesichts der wenigen Kunden für seinen Betrieb Graf nicht, resümiert er nüchtern. Seit Samstag Vormittag beobachtet er von seiner kleinen Werkstatt aus wieder Aufbruchsstimmung im Handel, dass diese nachhaltig ist, glaubt er jedoch nicht. "Corona wird Jahre nachwirken. Die Ungewissheit ist einfach zu groß." Er selbst hat sein Geschäft vor einem Jahr verkauft und zieht sich unabhängig der Krise Ende Dezember aus dem Unternehmerleben zurück. "Müsste ich noch Jahre weitermachen, ich hätte kein gutes Gefühl." Veränderungen erhofft er für seine Handelskollegen bei den Mietpreisen. "Was hier auf dem Markt verlangt wird, lässt sich nicht mehr verdienen."

Angst vor der Zukunft

Thomas Koppitz, der unter der Marke Young Style mit 60 Mitarbeitern drei Friseurstudios betreibt, organisiert hinter Plexiglasscheiben übervolle Terminkalender. Der Ansturm an Kunden sei enorm, sagt er. Angst vor der Zukunft hat er deswegen nicht weniger. Früher oder später werde das Geschäft abflauen, befürchtet er, der Super-GAU wäre ein Coronafall im eigenen Betrieb oder ein neuerlicher Shutdown im Herbst. Koppitz investierte 14.500 Euro in Sicherheitsvorkehrungen und sah von Kündigungen ab. "Ich baue mir doch nicht 30 Jahre lang ein Team auf, das ich dann über Nacht rausschmeiße." Von der Politik ist er enttäuscht. "Ich spüre nichts von einem Rettungsschirm." Seine Bank forderte ihn jüngst auf, sein Gehalt als Geschäftsführer zu halbieren und über fünf Jahre einzufrieren. "Ich fühle mich als Unternehmer entwertet." (Verena Kainrath, 2.5.2020)