Im Gastkommentar kritisiert der Kulturwissenschafter Christoph Landerer, dass in der EU noch Mitte März an der Personenfreizügigkeit festgehalten wurde. Generell fehle es (noch) an einer koordinierten Vorgehensweise. Darauf müsse sich europäische Politik einstellen.

Die Corona-Krise ist auch eine Krise Europas. Im Unterschied zu jenen asiatischen Staaten, die die Verbreitung des Virus mit größerem Erfolg kontrollieren, fällt im alten Kontinent nicht nur eine geringere Tendenz zu staatlicher Überwachung auf, sondern vor allem das späte Einsetzen von Maßnahmen an den Grenzen. China informierte die WHO am 31. Dezember 2019 über einen unbekannten Erreger. Noch am selben Tag führt Taiwan Gesundheitskontrollen ein, Singapur folgt am 2. Jänner, Südkorea tags darauf – zunächst für Reisende aus Wuhan; in Singapur werden allgemeine Einreisebeschränkungen über einen Zeitraum von mehreren Wochen in acht Stufen immer weiter ausgebaut. Auch Australien und Neuseeland verfügen teilweise strikte Einreiseverbote ab 1. Februar. Kein einziges asiatisches oder ozeanisches Land verzeichnet heute mehr als fünf Corona-Tote pro eine Million Einwohner (Österreich 65, USA 198, Spanien 531. Belgien: 665, Stand 1. Mai).

Die weltweite Covid-19-Verbreitung mit Stand 2. März. An diesem Tag hat das Brüsseler Zentrum für die Koordination von Notfallmaßnahmen (ECDC) das Infektionsrisiko von "moderat" auf "hoch" gestuft.
Foto: AFP/John Thys

Illusion der Personenfreizügigkeit

In Europa wähnt man sich sicher, Asien ist weit weg – und doch nur wenige Flugstunden entfernt. Der Flughafen Schwechat beginnt am 6. Februar mit Temperaturkontrollen für wöchentlich drei Air-China-Flüge, doch punktuelle Fiebermessungen an der Grenze zu Italien werden erst für den 10. März angekündigt – nur einen Tag später endet der reguläre Personenverkehr als Folge der italienischen Totalquarantäne. Bereits am 8. März meldete allein die Lombardei mehr als hundert Tote an einem einzigen Tag.

Österreich liegt freilich im europäischen Trend – Einreisebeschränkungen werden spät erlassen, Kontrollen der innereuropäischen Grenzen noch später verfügt. Noch Mitte März hält die EU-Kommission an der Illusion der Personenfreizügigkeit fest und versucht Reisesperren im Schengenraum zu verhindern.

Multiples Versagen

Am 13. März schließen die USA die Grenzen für Reisende aus der EU, gegen heftigen europäischen Widerstand; am 16. März zieht die Kommission mit der Schließung der EU-Außengrenzen nach. Die Begründung von Donald Trump verweist auf die amerikanischen Maßnahmen vom 31. Jänner und ist nach heutigem Wissensstand nicht völlig falsch: "Die EU hat dabei versagt, dieselben Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen und Reisebeschränkungen für China und andere Schwerpunkte der Seuche zu erlassen." Eine Genstudie der Icahn School of Medicine untermauert die US-Argumentation mit Blick auf das am schwersten betroffene New York: "Die Mehrheit (der Fälle) ist klar europäisch."

Rückblickend haben freilich viele versagt: Die WHO, die europäische Seuchenagentur ECDC, selbst anerkannte Experten wie Christian Drosten änderten ihre Meinung bis Anfang März dramatisch. Von den drei am stärksten betroffenen Weltregionen Asien, Europa und Nordamerika fällt allerdings Europa mit der geringsten Aktivität an den Grenzen auf. Nirgendwo wurden die WHO-Empfehlungen vom 30. Jänner, die von Reisebeschränkungen abrieten, konsequenter umgesetzt, und nirgendwo wird das Thema Grenzen stärker ideologisiert.

Ideologisierte Grenzen

Eine gemeinsame Linie gegenüber China und anderen Verbreitungsgebieten lässt sich auf europäischer Ebene nicht entwickeln – zum einen fehlen die Kompetenzen, zum anderen hindern lange Entscheidungsketten an einer raschen Reaktion. Die Einzelstaaten wiederum scheuen bilaterale Maßnahmen gegenüber einem mächtigen Handelspartner; die zweite, nationale, Eindämmungsebene bleibt aufgrund des Schengenvertrags ungenutzt. Dazu kommt eine politische Konstellation, in der liberale, Links- und Mitte-links-Regierungen in Italien, Frankreich, Spanien unter den Druck rechtspopulistischer Parteien geraten, deren nationalistischer Agenda man sich nicht ergeben möchte. Auch in Österreich forderte die FPÖ bereits im Februar Beschränkungen für Reisende aus Norditalien.

Maßnahmen an den Grenzen, die den freien Personenverkehr beschneiden, sind aber nicht zwingend ein Zeichen mangelnder Solidarität. Grenzen sind – pragmatisch gesehen – auch Krücken und Behelfskonstruktionen, die Tempo aus einem Verbreitungsgeschehen nehmen können, das durch die jeweiligen nationalen Strategien und vor dem Hintergrund geografischer und politischer Gegebenheiten aus dem Ruder zu laufen droht.

Die ideale EU

In einem idealen europäischen Universum würden europäische Instanzen frühzeitig Kontrollen und Reisebeschränkungen erlassen und die Eindämmungsmaßnahmen der Mitgliedsstaaten koordinieren. Doch so weit ist der Kontinent noch nicht, und auch ein europäischer Schulterschluss ist nicht in Sicht. Werden Instanzen der EU mit Kompetenzen ausgestattet, die selbst auf nationalstaatlicher Ebene für schwere grundrechtliche Bedenken sorgen, dann befinden wir uns in der Endausbaustufe des europäischen Projekts. Bis es so weit ist, brauchen wir Lösungen für jenes gefährliche Zwischenstadium, mit dem wir uns aktuell arrangieren müssen.

In diesem Zwischenstadium kann europäische Politik mangelhaft funktionierende nationale Krisenmechanismen behindern oder gänzlich aushebeln, aber sie verfügt nicht über die Mittel, die dadurch verursachten Probleme auf einer höheren Ebene zu lösen. Bereits Euro- und Flüchtlingskrise folgten einem ähnlichen Muster: Der europäische Dampfer wird ohne Kollisionsschotten und Rettungsboote auf Fahrt geschickt; geht die Sache schief, dann muss das Schiff auf offener See umgebaut werden. In der Post-Corona-Zeit werden wir uns grundsätzlich darüber unterhalten müssen, wie wir europäische Politik behutsam auf eine Weise weiterentwickeln wollen, die zwar das zukünftige Ziel im Auge behält, die Wahl der Mittel aber besser mit den Möglichkeiten der Gegenwart akkordiert. (Christoph Landerer, 3.5.2020)