Foto: Goldmann

Hut ab vor Blake Crouch! Sein Roman "Die gestohlene Erinnerung" beinhaltet die unfassbarste Eskalation seit Dan Wells' "Die Formel". (Wir erinnern uns: Darin löste eine Hautcreme die Apokalypse aus.) Ob der Ereignisse in der zweiten Romanhälfte steht einem der Mund sperrangelweit offen – und dabei hatte doch alles als ganz normale Mystery begonnen.

Die Puzzle-Teile ...

Den Wissenschaftsthriller respektive die wissenschaftlich basierte Mystery habe ich schon mehrfach als "gemütliches" Genre bezeichnet, weil es – inklusive dem Happy End – so schön vorhersehbar ist und auf formelhafte Handlungsmuster setzt. Zunächst braucht es analog zu einem Krimi eine Art von Ermittler, und so einen finden wir auch hier: Barry Sutton ist ein Detective beim NYPD und aufgrund tragischer Ereignisse ein Einzelgänger. Seine Familie zerbrach, als seine Tochter vor einigen Jahren bei einem Unfall ums Leben kam.

Barry lernen wir kennen, als er versucht, eine Frau vom Selbstmord abzuhalten. Sie ist das jüngste Opfer einer grassierenden "Epidemie", die als False Memory Syndrome/FMS für Schlagzeilen sorgt: Menschen erinnern sich – in Schwarzweiß – an ein Leben, das sie nie geführt haben, und kommen mit dem Widerspruch zu ihrer realen Existenz nicht zurecht. Die Selbstmordrate ist hoch. Es wird spekuliert, dass es sich dabei um eine Art von Massenhysterie handelt, die sich über soziale Medien viral verbreitet, aber letztlich hat man keine Ahnung. Barry indes geht Unstimmigkeiten in der Erzählung der Frau nach und kommt damit auf die Spur eines Geheimnisses, das viel größer ist, als er und wir zunächst noch denken. Und schon bald wird auch er eine FMS-Attacke erleiden.

... fügen sich zusammen

In einem parallelen Handlungsstrang wird uns die Neurowissenschafterin Helena Smith vorgestellt, die an einem Gerät zur Kartierung und Speicherung von Erinnerungen arbeitet. Dass ihre Mutter an Alzheimer leidet, gibt Helena ein sehr persönliches Motiv dafür, alles in ihrem Leben der Forschung unterzuordnen. Im akademischen Betrieb stößt sie an ihre Grenzen, doch da taucht als Retter in der Not ein geheimnisvoller Finanzier auf: Marcus Slade, ein sagenhaft reicher Philanthrop und Visionär, der draußen im Ozean auf einer ehemaligen Bohrplattform residiert und Helena unbegrenzte Mittel zur Verfügung stellt, um ihre Entwicklung zu vollenden.

Die Begegnung zwischen Helena und Slade spielt sich 2007 ab – demselben entscheidenden Jahr, in dem Barrys Tochter starb. Dieser Handlungsstrang nähert sich nun Kapitel für Kapitel der Gegenwartsebene mit dem grassierenden FMS an. Und damit hätten wir die klassischen Ingredienzen eines Wissenschaftsthrillers beisammen: das männlich-weibliche Protagonistenduo mit Aussicht auf eine Romanze und als mutmaßlichen Antagonisten den technologischen Visionär, der vor nichts zurückschreckt (Slade äußert einmal, dass die Zerstörung des Status quo "sein Ding" sei). So formelhaft ... und so trügerisch.

Die wahren Abenteuer sind im Kopf

Dass Helenas Gerät mit dem FMS ins Zusammenhang steht/stehen wird, ist klar. Wie der genau aussieht, schon weit weniger. Denn das Verfahren hat eine "Nebenwirkung", für die selbst der längste Beipackzettel der Welt nicht als Warnung ausreichen würde. Diejenigen, die Blake Crouchs früheren Roman "Dark Matter" gelesen haben, könnten bereits eine Ahnung haben, aber dem Rest will ich die Überraschung hier nicht verderben. Einmal mehr verknüpft der US-Autor, der unter anderem mit seinen Romanen zur Fernsehserie "Wayward Pines" bekannt geworden ist, gekonnt Mystery mit waschechter Science Fiction.

Crouch spricht einige thematisch relevante Phänomene aus der Wahrnehmungspsychologie an. Etwa den sogenannten Mandela-Effekt, der beschreibt, wie sich eine große Zahl von Menschen an ein Ereignis erinnert, das in Wirklichkeit nie stattgefunden hat. Oder den Umstand, dass das, was wir als unmittelbares Jetzt empfinden, in Wirklichkeit die von unserem Gehirn erzeugte Rekonstruktion eines Zeitraums von mehreren Sekunden ist – und damit bereits Vergangenheit. Solche kurzen Ausflüge in die Wissenschaft geben den erwartbaren Teil des Kontextes von "Gestohlene Erinnerung" vor: die Konstruktion und Redaktion von Wirklichkeit. Den Protagonisten wird dies so manchen Philip-K.-Dick-Moment bescheren.

Nicht zu erwarten war hingegen die schon eingangs erwähnte Eskalation, die sich daraus ergeben wird. In der zweiten Hälfte nimmt der Roman gewaltig an Tempo auf und sprengt die Grenzen des Genres, in dem er sich bis dahin bewegt hat. Umstürze folgen im Stakkato, und die Ereignisse nehmen immer größere Dimensionen an. Diese mit beeindruckender Konsequenz durchgezogene Beschleunigung entspringt der zuvor etablierten Ausgangslage ebenso zwangsläufig wie unvorhersehbar – ganz, wie es dem Wesen einer Singularität entspricht.

Klare Empfehlung!

Wie um alles in der Welt soll man da nur jemals wieder rauskommen? So fesselnd diese Frage die Lektüre auch macht, soll doch die menschliche Seite des Romans nicht unerwähnt bleiben. Die beiden Hauptfiguren haben jeweils mit einem tragischen Verlust zu kämpfen. Und die Akzeptanz des Umstands, dass Leiden Teil des Lebens ist, spielt für die Handlung eine ebenso große Rolle wie der Irrsinn, über den Barry und Helena langsam zu dieser Erkenntnis finden. Es ist dieser letzte Schliff, der den Roman noch einmal veredelt. Kurz gesagt: "Gestohlene Erinnerung" war für mich die positive Überraschung des Monats.