Im Unterschied zu Deutschland, wo die jüdische Bevölkerung aus mehreren Städten deportiert wurde, war Wien der zentrale Ort für die Deportationen österreichischer Jüdinnen und Juden. Der Großteil der jüdischen Bevölkerung Österreichs (etwa 92 Prozent) lebte bereits vor dem Anschluss in Wien. In den Jahren 1938 und 1939 wurden Jüdinnen und Juden aus den Bundesländern sukzessive nach Wien vertrieben und die lokalen jüdischen Gemeinden aufgelöst. Die Zahl der nach NS-Gesetzen als jüdisch definierten Österreicherinnen und Österreicher im Jahr 1938 wird auf 201.000 geschätzt. Laut Volkszählung im Mai 1939 war Wien die Stadt mit dem höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil im gesamten Deutschen Reich.

Der Nordbahnhof 1908.
Foto: public domain

Wien als zentraler Ort der Deportationen

Zu Beginn der großen Deportationen im Februar 1941 lebten noch rund 61.000 Personen, denen die Flucht nicht gelungen war, in Wien. Auf Initiative des neuernannten Reichsstatthalters Baldur von Schirach wurden im Februar 1941 die ersten Massendeportationen ins Generalgouvernement durchführt, die bereits in den Organisationsformen stattfanden, die reichsweit erst im Oktober 1941 zum Einsatz kamen. Zwischen Februar und März 1941 wurden über 5.000 Jüdinnen und Juden vom Aspangbahnhof in polnische Kleinstädte deportiert, von denen die überwiegende Mehrheit in den darauffolgenden Jahren in den Vernichtungslagern der Aktion Reinhardt ermordet wurde.

Im Oktober 1941 begannen die reichsweiten Deportationen, innerhalb eines Jahres wurden über 40.500 Frauen, Männer und Kinder in 40 Transporten vom Aspangbahnhof in Ghettos, Mordstätten und Vernichtungslager im Osten deportiert. Parallel dazu erfolgten in dieser Zeit bereits Einzeltransporte vom Nordbahnhof nach Auschwitz, wobei es sich um "Schutzhäftlinge" der Gestapo handelte. Bis auf einen einzigen, ursprünglich für Theresienstadt bestimmten Transport im Sommer 1942 verließen alle direkten Auschwitz-Transporte Wien vom Nordbahnhof.

Kriminalisierung des Alltags in Wien verbliebener Jüdinnen und Juden

Nach der Deportation des Großteils der jüdischen Bevölkerung wurde die Israelitische Kultusgemeinde Wien Ende Oktober 1942 aufgelöst und in den "Ältestenrat der Juden in Wien" umgewandelt, der von nun an für die wenigen in Wien verbliebenen Personen zuständig war, die nach NS-Gesetzen als Jüdinnen und Juden galten – der Großteil davon Angehörige von "Mischehefamilien", die durch einen nichtjüdischen Partner oder Elternteil geschützt waren. Im Falle einer Scheidung oder nach dem Tod des "arischen" Partners verloren jüdische Familienmitglieder diesen Schutz. Von Dezember 1942 bis Kriegsende wurden immer wieder kleinere Gruppen sowie Einzelpersonen vom Wiener Nordbahnhof nach Theresienstadt deportiert – darunter auch viele Angestellte des "Ältestenrats", der seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf Anweisung der NS-Behörden laufend reduzieren musste.

Die 1922 in Wien geborene "Geltungsjüdin" Katharina Fischer, die als Schneiderin tätig war, wurde im Februar 1943 wegen "Unterlassung der jüdischen Kennzeichnungspflicht" festgenommen und am 14. April 1943 vom Wiener Nordbahnhof nach Auschwitz deportiert, wo sie am 11. Dezember 1943 ermordet wurde.
Foto: Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA)
Der 18-jährige Friedrich Braun, der als "Geltungsjude" bei seiner "arischen" Mutter und seinem Stiefvater lebte, wurde am 25. Oktober 1943 wegen mehrmaligen "Fernbleibens vom Arbeitsplatz" verhaftet und vom Wiener Nordbahnhof nach Auschwitz deportiert, wo er am 22. Jänner 1944 ermordet wurde.
Foto: Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA)

Die in Wien verbliebenen Jüdinnen und Juden standen unter prekärem Schutz und waren Denunziationen und Anpöbelungen durch die nichtjüdische Bevölkerung ausgesetzt. Da die antijüdische Gesetzgebung immer weitere Bereiche des Lebens betraf, kam es zu einer zunehmenden Kriminalisierung des jüdischen Alltags, da beispielsweise sowohl das Halten von Haustieren als auch das Kaufen von Kuchen für Juden verboten war. Jüdinnen und Juden durften ohne Genehmigung keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen und waren ab Juli 1942 von jeglicher Form des schulischen Unterrichts ausgeschlossen. Häufig konnte erst durch "Verstöße" wie das Besorgen von für Juden verbotenen Lebensmitteln (Eier, Milch, Fleisch, Weizenmehlprodukte) eine gewisse Normalität hergestellt werden. Dies zeigte sich auch in den Gestapo-Tagesberichten, in denen diese "Delikte" dokumentiert wurden. Wurden Betroffene ohne "Judenstern" oder mit für Juden verbotenen Waren angetroffen, kamen sie in "Schutzhaft" und wurden zumeist aufgrund solcher "Vergehen" vom Nordbahnhof nach Auschwitz deportiert.

Genaue Zahl der vom Nordbahnhof Deportieren bis heute unklar

Die Zahl der vom Wiener Nordbahnhof deportierten jüdischen Österreicherinnen und Österreicher lässt sich aufgrund der schwierigen Quellenlage nicht exakt feststellen, da auch Jüdinnen und Juden aus anderen Teilen des Deutschen Reiches nach gescheitertem Fluchtversuch über den Nordbahnhof deportiert wurden. Derzeit wird die Zahl der österreichischen Deportierten auf 2.141 Personen geschätzt. (Michaela Raggam-Blesch, 7.5.2020)