Die Frau ohne Eigenschaften hatte in der Arbeitslosigkeit ihre Morgenroutine gefunden. In der Früh yogierte sie, nach der Morgentoilette wurde der Smoothie-Maker aktiviert und neue Rezepte ausprobiert. Darunter die Kombinationen Brennnessel-Mandel-Apfel und Schafgarbe-Blattsalat-Mango. Das hielt für eine Weile satt.

Vormittags unternahm sie oft einen Spaziergang. Der blühende Flieder lud dazu ein. Sie setzte sich auf eine verlassene Parkbank, hörte Musik oder Nachrichten und beobachtete das Geschehen. Für gewöhnlich ereignete sich wenig. Gähnende Leere. Doch bald gestand sich Lena ein, dass es seinen Reiz hatte, im Nichts die Lust zu finden. "Manchmal muss man nur ein bisschen näher hinsehen und plötzlich gibt es ganz viel zu entdecken", dachte sich die Frau ohne Eigenschaften.

Kinderlose Spielplätze. Ein einsamer Spatz rund um den Mistcontainer. Kein Tier in der Hundezone. Der Geruch von Hundstrümmerln war geblieben. Die Schule war nun allein und freute sich schon auf die baldige Rückkehr der Kinder. Auf Anna, Maximilian, Emma, Nils, Konstanze und die anderen. Spielplätze seien nun gefährlich, hieß es. "Die Tage sind jetzt namenlos", singt Violetta Parisini.

Grasroots
Foto: Michael Grilz

Im blühenden Dazwischen der Zweifel

Erst jetzt war Lena aufgefallen, dass der Kirschbaumstamm märchenhaft verwunschen gebogen war. Die Jahre davor hatte sie nie Zeit dafür gefunden, den Frühling zu beobachten. Nie hatte sie die Gelegenheit zu sehen, wie langsam die Triebe auf ihr Erwachen warteten und sie plötzlich aufsprangen und der Sonne zugrinsten. Lange hatte die Frau ohne Eigenschaften nicht die Gerüche des Frühlings wahrgenommen.

Kirschblüte, Fichtentriebe, Apfelblüte, duftender Flieder. Sie war dankbar und schätzte die vielen freien Stunden, die ihr nun zur Verfügung standen. Und doch merkte Lena, dass die Zeit verzwirbelt war. Sie fühlte sich klein in dieser Welt. Sie hatte manchmal regelrecht das Gefühl, vom Leben betrogen zu werden.

"Die Verwirrung ist groß", ist von Violetta Parisini zu hören. Lena wusste nicht, wie es so ohne Job und Existenzsicherung weitergehen würde. Doch dann sah sie wieder in welch privilegierten Verhältnissen sie lebte. In einem Land, in dem es ein Auffangnetz gab.

Gedankenwirbeln
Foto: Michael Grilz

In der Dunkelheit das Licht finden

"Das Leben hat nun einmal beides. Licht und Schatten", überlegte die Frau ohne Eigenschaften. Stundenlang war sie zufrieden und ganz ruhig und schlagartig kippte die Laune. Dann verstrickte sie sich oft so sehr im dunklen Strudel der Gedanken, dass sie nicht weiter wusste. "Doch glücklicherweise" hatte sie "weise Freundinnen" (Violetta Parisini), die ihr dabei halfen in der Dunkelheit das Licht zu finden.

Nachdem die Nasenspitze wieder von der Sonne gekitzelt werden konnte und nachdem wieder einmal mit ihrem liebsten Paul herzhaft gelacht wurde, war sie "frei vom schlechten Gewissen", "frei von ungewussten Pflichten" (Violetta Parisini). Und das war ein großes Glück. Sie wandte sich der Ruhe zu und entdeckte weiter viel Bezauberndes im süßen Nichtstun. (Katharina Ingrid Godler, 7.5.2020)

Fingerzeig

  • Die Bilder lieferte der Geo- und Fotograf Michael Grilz.
  • Die Zitate im Beitrag stammen aus Violetta Parisinis Album "Mehr Sein", aus den Liedern "Frei", "Scherben" und "Ein Schritt nach dem Anderen". 

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