Nächsten Freitag wird man sich weltweit an das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren erinnern. Wegen der Pandemie findet weder der geplante deutsche Staatsakt in Berlin noch die Militärparade zum "Tag des Sieges" in Moskau statt. Trotz der Corona-Krise ist es richtig, dieses Datums mit Fernsehdokumentationen, Zeitungsartikeln und Diskussionen zu gedenken. Der von Hitlerdeutschland entfesselte Krieg mit 60 Millionen Toten war die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Die systematische industrielle Ausrottung von sechs Millionen Juden, einschließlich der Alten, der Frauen, der Kinder und der Säuglinge, durch die Deutschen – was wir Holocaust oder Shoah nennen – bleibt ein singuläres Verbrechen während dieser Kriegsjahre.

Nächsten Freitag wird man sich weltweit an das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren erinnern.
Foto: imago/Leemage

Als betroffener Zeitzeuge meine ich aber, dass wir uns da nichts vormachen sollten. Es gibt nach wie vor keine kollektive Geschichtserinnerung. In seiner denkwürdigen Rede aus dem Jahr 1985 räumte der deutsche Bundespräsident Richard von Weizsäcker mit den tiefverwurzelten Lügen der Täter- und Mitläufergeneration auf, man habe vom Holocaust nichts gewusst. Und heute? Laut einer Onlineumfrage der "Zeit" bejahten 53 Prozent der Befragten die Aussage: "Die Masse der Deutschen hatte keine Schuld, es waren nur einige Verbrecher, die den Krieg angezettelt und die Juden umgebracht haben."

Opfer und Befreier

Weizsäcker sagte damals auch, der 8. Mai war ein "Tag der Befreiung". Laut der jüngsten "Stern"-Umfrage wissen 45 Prozent der Deutschen und 68 Prozent der 18- bis 29-Jährigen nicht, dass am 8. Mai 1945 der Zweite Weltkrieg beendet wurde. Für viele Millionen Menschen in den von der deutschen Wehrmacht überfallenen Ländern, allen voran für die Überlebenden des Holocausts, war und bleibt der 8. Mai der "Tag der Befreiung". Auch für die Russen, zählte doch die damalige Sowjetunion 26 Millionen Tote, da die Rote Armee bis zur Landung der Alliierten im Juni 1944 praktisch allein gegen Nazideutschland gekämpft hatte.

Der stalinistische Sowjetstaat war aber nicht nur Opfer und Befreier, sondern auch Täter und Besatzer. Stalin war nicht nur für eine Politik des Massenmordes verantwortlich gewesen. Mit dem Hitler-Stalin-Pakt samt den geheimen Zusatzprotokollen wurden die Aufteilung Polens und die Besatzung der baltischen Staaten besiegelt. Bald wurde klar, dass der Einmarsch der Roten Armee nicht nur das Ende des Faschismus, sondern auch den Anfang einer neuen Knechtschaft für die Völker Mittel- und Osteuropas bedeutete.

Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs wird von dem großrussischen, nationalistischen Putin-Regime umgeschrieben und das Gedenken an den 8. Mai durch Verfälschung von längst bekannten und in der Jelzin-Ära auch zugegebenen historischen Tatsachen instrumentalisiert. Es ist selten, dass eine Vergangenheit nach mehr als acht Jahrzehnten immer noch eine Gegenwart in ihrem Bann hält. Die Geschichte wird nicht nur im russisch-polnischen Verhältnis, sondern auch in Polen und Ungarn für die politischen Interessen der gegenwärtigen Regierungen umgedeutet. Die ungebrochene Kontinuität des Nationalismus und des Antisemitismus überschattet den "Tag der Befreiung". (Paul Lendvai, 5.5.2020)