"Die internen Debatten müssen geführt, dann in eine gemeinsame Position gegossen und so nach außen vertreten werden", sagt der ehemalige Kanzler und SPÖ-Chef Franz Vranitzky.

Foto: Heribert Corn

Franz Vranitzky ist Bundeskanzler in Ruhe, und er gibt auch gerade Ruhe. Mit 83 Jahren hat sich der langjährige SPÖ-Chef und Kanzler in die freiwillige Selbstisolation begeben, an die er sich immer noch hält. Innerlich ist Vranitzky aber eher in Unruhe. Er mache sich Sorgen um Österreich, vertraute Vranitzky dem STANDARD an. Seine Partei mahnt er zur Einigkeit. Die Mitgliederbefragung, deren Ergebnis am Mittwoch präsentiert wird, hätte er nicht gebraucht.

STANDARD: Ein Milliardenhilfspaket, kein Nulldefizit-Gebot, dafür Sonderprämien für Arbeitnehmer. Was Bundeskanzler Sebastian Kurz zuletzt anklingen hat lassen, klang sehr nach sozialdemokratischer Politik. Was sagen Sie dazu?

Vranitzky: Es liegt mir fern, den Regierungschef zu beschreiben, bloß so viel: Sozialdemokratisch ist er nicht. Es ist nur so, dass es in einer Krise nur eine politische Antwort gibt – und das ist der Keynesianismus. Das bedeutet: In die Krise hinein investieren, um die Kaufkraft zu stützen und die Wirtschaft am Laufen zu halten. Alles andere funktioniert nicht. In der Wirtschaftskrise 1929, 1930 hat der damalige republikanische US-Präsident Herbert Hoover auf Austerity-Politik gesetzt, die Steuern erhöht und am Goldstandard festgehalten. Das hat alles nur noch schlimmer gemacht. Erst als der Demokrat Roosevelt mit seinem New Deal an die Macht kam, ging es den USA langsam wieder wirtschaftlich besser.

STANDARD: Das ist lange her. Was können wir für die heutige Zeit daraus lernen?

Vranitzky: Ob konservativ oder neoliberal: gleichgültig. Ihre Kampfparolen mussten sie jetzt vergraben: Sparen im System, Nulldefizit-Jargon, weniger Staat, mehr privat, all das kann man zurzeit nicht recht gebrauchen. Daher erscheint es, als hätten auch Konservative jetzt sozialdemokratische Anwandlungen.

STANDARD: Was müsste die Regierung aus Ihrer Sicht tun?

Vranitzky: Man muss eine finanziell expansive Politik zulassen. Die Frage ist, ob die 38 Milliarden ausreichen – aber jedenfalls ist es dringlich notwendig, dass das jetzt auch unmittelbar rasch umgesetzt wird. Viele, vor allem kleinere Wirtschaftstreibende sagen ja, sie hätten davon bis jetzt wenig gespürt. In einem zweiten Schritt muss man alles unternehmen, um die Eigenkapitalbasis der Unternehmen zu stärken. Darlehen sind ja ganz nett – aber sobald die Raten zurückzuzahlen sind, kommen viele Unternehmen wieder ins Trudeln. Die Schulden holen den Schuldner wieder ein.

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STANDARD: Was heißt das konkret?

Vranitzky: Ich empfehle der Bundesregierung, das Peter-Hanke-Modell in Wien zu kopieren. Beteiligungen der öffentlichen Hand halte ich gerade jetzt für richtig. Darüber hinaus wäre es geboten, nicht nur die Zahlungsfähigkeit der Unternehmen sicherzustellen, sondern auch, dass die Leute wieder in Beschäftigung kommen. Dafür brauchen die Unternehmen einen Ellbogen-Spielraum, sonst stellen sie niemanden ein. Die hohe Zahl an Arbeitslosen beunruhigt mich sehr.

STANDARD: Einige Wirtschaftsforscher meinen, dem rapiden Abschwung werde ein ebenso rapider Aufschwung folgen. Glauben Sie das nicht?

Vranitzky: Das ist der berühmte V-Verlauf. Wäre mir recht. Ich wäre allerdings schon mit einer U-Kurve zufrieden. Man wird auch nachdenken müssen, welche Wirtschaft wir nach der Krise haben wollen.

STANDARD: Was meinen Sie damit?

Vranitzky: Wir sollten die Chance nützen, einen umfassenden Plan zu entwickeln, um in die kritische Infrastruktur, die Digitalisierung mitsamt dem raschen Ausbau des Breitbandnetzes und in Nachhaltigkeit und Ökologisierung zu investieren. Dem jetzigen Bundeskanzler ist immer so wichtig, dass er in Europa der Beste und der Erste ist – damit könnte er Österreich wirklich zum europäischen Vorzeigeland machen.

STANDARD: Es gibt immer wieder Kritik an den Hilfsmaßnahmen der Regierung, zum Teil auch, weil diese über die Wirtschaftskammer organisiert werden. Zu Recht oder zu Unrecht?

Vranitzky: Die Sozialpartner bemühen sich bestimmt sehr, aber dieser Umweg wird zu Recht kritisiert. Die Finanzämter wären der direkte Weg gewesen: Staatshilfen direkt aus staatlicher Hand.

STANDARD: Die SPÖ schlägt nun die 30-Stunden-Woche vor. Was halten Sie davon?

Vranitzky: Wir brauchen eine Gesamtanalyse des Systems und müssen ganzheitlich vorgehen. Drei Punkte müssen geklärt werden. Erstens: Wohin fließen künftig öffentliche Investitionen? Zweitens: Wie stellen wir uns ein modernes Steuersystem vor? Drittens: Wie schaffen wir eine moderne Regelung der Arbeitszeit? Hier ein bisschen und dort ein bisschen wird nicht reichen. Und man sollte auch nicht aus dem Corona-Schock heraus einzelthemenverliebt sein.

STANDARD: Was sprechen Sie an?

Vranitzky: Ministerin Schramböck etwa meinte, als es Lieferengpässe aus China gab, wir müssen mehr auf Regionalisierung setzen. Das kann in Teilbereichen eine Möglichkeit sein, würde im Großen und Ganzen aber ein mehr als problematischer Weg sein. Für österreichische Firmen, die in der Mehrzahl deshalb erfolgreich sind, weil sie Lieferungen tätigen und Zulieferungen verarbeiten, würden enge Regionalisierungen Amputationen gleichkommen. Nicht gerade Erfolgsrezepte.

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STANDARD: Das gute Gesamtkonzept hat man jetzt auch noch nicht von der SPÖ gehört. Warum nicht?

Vranitzky: Als Oppositionspartei kämpft man in einer solchen Krise immer damit, dass die Regierung aus ihrer Verantwortungsposition heraus mehr öffentliche Aufmerksamkeit hat. Davon darf man sich aber nicht irritieren lassen. Die SPÖ muss die Regierung fordern, muss zukunftsweisende Konzepte entwickeln und präsentieren. Das erwartet schon die große Zahl der unselbstständig Erwerbstätigen ebenso wie die der selbstständigen Wirtschaftstreibenden.

STANDARD: Nun ist einmal die Auswertung der Mitgliederbefragung angesagt ...

Vranitzky: Die hätten die meisten SPÖ-Mitglieder gar nicht gebraucht. Ich auch nicht. Ich weiß auch so, dass die erste große Anstrengung darin besteht, die einzelnen Organisationsteile zur Einigkeit zu rufen. Allen muss klar sein, dass man sich jetzt auf die Zukunft des Landes zu konzentrieren hat. Die internen Debatten müssen geführt, dann in eine gemeinsame Position gegossen und so nach außen vertreten werden.

STANDARD: Was raten Sie Ihrer Partei? Obfrauwechsel?

Vranitzky: Solche Anwandlungen erübrigen sich, wenn die hier grob skizzierten Umrisse im Prinzip verfolgt werden. Kleinmut ist fehl am Platz. Dass der jetzige ÖVP-Chef Wahlen gewonnen und weiterhin gute Umfragewerte hat, ist so. Dass die Berufung auf frühere Wahlerfolge kaum als Gegenwartsrezept dient, ist auch so. Daher gibt es ja gar nichts anderes, als die Herausforderungen der Zukunft zu erkennen und nach bestem Bemühen für Freiheit, Demokratie und bestmögliche Lebenswelten zu kämpfen.

STANDARD: Fürchten Sie, dass die inneren Querelen der SPÖ bei der Wien-Wahl schaden könnten?

Vranitzky: Das fürchte ich nicht. Bürgermeister Michael Ludwig hat seine Führungsrolle sehr rasch angenommen, und er hat ein gutes Team. Da gibt es überhaupt keinen Schwachpunkt. Die passende Garnitur für eine europäische Metropole. (Petra Stuiber, 6.5.2020)