Ein Blick in den Sitzungssaal, analog.
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Parlamente beschreiben sich selbst als "zentrale Orte" der Demokratie, und diese Einschätzung wird auch in der Politikwissenschaft geteilt. Der Fokus liegt auf einem physischen Ort, an dem Menschen von Angesicht zu Angesicht kommunizieren und entscheiden müssen. Weder in der Praxis der europäischen Parlamente seit 1945 noch in theoretischen Debatten hat man sich näher mit der Möglichkeit befasst, dass sich Abgeordnete nicht versammeln können. Vielmehr wurde die Bedeutung der unmittelbaren Versammlung betont und gegen Vorschläge zum Ausbau direkter und digitaler Demokratie ins Treffen geführt.

Dieser Befund gilt für alle durch demokratische Wahlen gewählten Parlamente in den Mitgliedsstaaten des Europarats, Kanada und den USA – unabhängig davon ist, welchen Status ein konkretes Parlament im jeweiligen politischen System hat. Die Covid-19-Krise hat dieses Verständnis ins Wanken gebracht. Die genannten Staaten stehen daher seit Februar 2020 in einem Informationsaustausch, wie Parlamente sich in Krisenzeiten versammeln und Entscheidungen treffen können. Die Autorin und der Autor dieses Beitrags begleiten diesen Informationsaustausch über ein parlamentswissenschaftliches Netzwerk und untersuchen die Entwicklungen gleichzeitig im Rahmen von Forschungsarbeiten.

Warum sind Regierungen schneller?

Regierungen und Ministerien haben angesichts von Covid-19 binnen weniger Tage ihre Beratungs- und Entscheidungsprozesse umgestellt und setzen vor allem auf Videokonferenzen. Dasselbe gilt für den Europäischen Rat. Im Unterschied dazu hat es Wochen gedauert, bis erste Parlamente wie das Europäische Parlament (EP) Sitzungen und Abstimmungen per Videokonferenz durchgeführt haben. In vielen Parlamenten wird nach wie vor darüber diskutiert, ob sie diesen Schritt überhaupt machen sollen und welche Alternativen es dazu gibt.

In den meisten Staaten ist die Entscheidungsfindung innerhalb von Regierungen oder durch Regierungsmitglieder kaum geregelt. Das hat damit zu tun, dass Regierungen nur aus einer überschaubaren Zahl von Personen bestehen, und dass sie nur innerhalb der gesetzlichen Vorgaben handeln, diese also vollziehen. Solange Entscheidungen in der dafür vorgesehenen Form getroffen werden, ist es (in den meisten Fällen) verfassungsrechtlich unerheblich, wie sie vorbereitet werden. Regierungen haben damit einen entscheidenden Kommunikationsvorteil gegenüber Parlamenten.

Digitalisierung und Parlamente

Im Gegensatz dazu bestehen für Parlamente viel detailliertere Regelungen und dementsprechende praktische Herausforderungen. Das nicht zuletzt deshalb, weil es in aller Regel (weit) mehr als 100 Menschen braucht, um entscheidungsfähig zu sein. Um die Reaktionsweisen von Parlamenten nachvollziehen und daraus weitere Schlüsse für ihre Stellung und Funktionsweise im politischen System ziehen zu können, sind eine große Zahl praktischer, politischer und rechtlicher Fragen zu beachten, etwa bei digitalen Beratungen und Abstimmungen.

Die "Digitalisierung von Parlamenten" hatte bisher den Schwerpunkt des Ausbaus der Kommunikations- und Informationsangebote nach außen. Daher war es allen Parlamenten auch möglich, die Öffentlichkeit von Sitzungen durch TV-Übertragungen oder Streaming zu garantieren und die Informationsangebote (inklusive Führungen) weitgehend ins Web zu verlagern.

Im Hinblick auf die parlamentarische Arbeit im engeren Sinn ist die Lage weit komplexer. In der Praxis macht es einen Unterschied, ob der gesamte Sitzungsbetrieb oder nur Teile, wie zum Beispiel die Einbringung von Anträgen, auf digital umgestellt werden. Dabei zeigt sich, dass vor allem bei Ausschusssitzungen eine höhere Bereitschaft besteht, Neues auszuprobieren. Gründe dafür sind die kleinere Zahl an Mitgliedern, die Praxis, einen Großteil der Sitzungen nicht-öffentlich abzuhalten, und die größere Flexibilität bei den Verfahrensregeln. Dann stellt sich die Frage, welche Vorgänge digital abgewickelt werden sollen. Das betrifft etwa die Einbringung von Anträgen, die Durchführung von Debatten und schließlich die Beschlussfassung. In manchen Parlamenten bestehen die technischen Voraussetzungen für das elektronische Einbringen von Anträgen, in vielen dominieren nach wie vor die Papierform und das Erfordernis der persönlichen Übergabe. Vor allem, weil die korrekte Durchführung des Gesetzgebungsverfahrens von der Einhaltung von Formalvorschriften abhängt, braucht es dafür klar geregelte, allgemein nachvollziehbare und akzeptierte Verfahren. Wenn Parlamente sich nicht schon länger damit befasst haben, ist es für sie praktisch unmöglich, innerhalb weniger Tage festzustellen, welche technischen Lösungen sich beispielsweise für Audio- und Videoübertragungen eignen, oder wie die Authentifizierung der Abgeordneten bei Abstimmungen sichergestellt werden kann. Lösungen wie jene des EP, wo Abgeordnete Stimmzettel fotografieren und per Mail übermitteln, werden daher nur provisorisch vereinbart.

Eine Kompromissvariante bilden Hybridlösungen, wie sie etwa im britischen House of Commons eingesetzt werden. Um Hygienestandards zu gewährleisten, soll nur ein Teil der Abgeordneten physisch anwesend sein. Die anderen werden via Zoom zugeschaltet. Damit stellt sich aber die Frage nach den Teilnahmebedingungen der Abgeordneten: Haben jene vor Ort mehr Möglichkeiten, das Geschehen zu beeinflussen? Haben jene zuhause einen Vorteil, weil sie im Unterschied zu ihren Kolleginnen und Kollegen im Parlament mehr und andere Informationen benutzen können?

Praktische Herausforderungen und politische Taktik

Dieses Beispiel zeigt, dass praktische Herausforderungen unmittelbar mit Fragen der politischen Positionierung und Taktik zusammenhängen. Es geht darum, das Ausmaß der Funktionsfähigkeit von Parlamenten zu bestimmen. Das heißt konkret: Werden Parlamente nur tätig, um die verfassungsmäßig unbedingt erforderlichen Schritte – in der Regel den Beschluss von Gesetzen – zu setzen? Folgen Parlamente nur den Erwartungen der Regierung(smehrheit) oder können sie als eigenständige Akteure tätig und wahrgenommen werden?

Jeder praktische Schritt, der gesetzt wird, muss aber auch rechtlich möglich sein. Eine Änderung der rechtlichen Rahmenbedingungen erfordert in den meisten Parlamenten die Zustimmung einer qualifizierten Mehrheit der Abgeordneten. Auch dort, wo wie im EP oder im Deutschen Bundestag Änderungen leichter möglich sind, wird im Interesse der Funktionsfähigkeit und Stabilität des Parlaments möglichst großer Konsens gesucht. Für Veränderungen braucht es daher ein Zusammenwirken zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien. Jede Änderung ist mit mindestens vier Fragen verbunden, die politisch riskant sein können: Welche Auswirkung hat sie auf die Arbeitsweise der Abgeordneten und den Einfluss der Fraktionen darauf? Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, um Änderungen zu ermöglichen? Wie lassen sich die Verhandlungen darüber öffentlich kommunizieren? Welche Auswirkungen hat das auf die (einleitend erwähnten) Vorstellungen von Parlamentarismus und ihre Vorbildfunktion für politische Auseinandersetzungen in einer Demokratie?

Im parlamentarischen Regierungssystem kommen weitere Konflikte dazu: Hier hat das Parlament immer auch die Aufgabe, die Stabilität der Regierung zu sichern. Das heißt, die Abgeordneten der Regierungsparteien müssen ihre Unterstützung zum Ausdruck bringen und sich durchsetzen können. Umgekehrt können Oppositionsparteien fragen, um welche Möglichkeiten sie durch die veränderte Dynamik einer Sitzung über Video gebracht werden könnten, vor allem, wenn keine unmittelbaren Reaktionsmöglichkeiten bestehen. Daraus folgt, dass Vorschläge, die im Moment sinnvoll erscheinen, selbst dann abgelehnt werden, wenn sie nur zeitweilig gelten. Schließlich muss bedacht werden, dass die interne Tätigkeit von Parlamenten durch ein Zusammenspiel von Recht und Politik geprägt ist. Rechtsfragen des Verfahrens sind von Politikerinnen und Politikern zu entscheiden, politische und rechtliche Argumente lassen sich daher praktisch nur schwer trennen. Solange keine eindeutigen Regelungen getroffen werden, hängt die Auslegung und Anwendung von bestehenden Regeln davon ab, dass sie von möglichst allen mitgetragen werden. Das führt abermals zu Zurückhaltung: Wenn jetzt zum Beispiel für einen kurzen Zeitraum auf digitale Beratungen und Abstimmungen umgestellt und damit unter Umständen die Handlungsfreiheit von Abgeordneten erhöht wird, kann es später schwierig sein, zum alten Verständnis zurückzukehren.

Wie machen es die anderen?

Diese Dominanz praktischer und politischer Fragen finden wir in allen Parlamenten. Zu den wichtigsten Faktoren für die Entscheidungsfindung zählt folglich die Beobachtung dessen, wie andere Parlamente vorgehen. Das ist genau jener Bereich, der sich in den letzten Wochen am dynamischsten entwickelt hat. Parlamentsbezogene Foren für internationalen Austausch gibt es dazu mehrere: Die Inter-Parliamentary Union (IPU) stellt etwa einen laufend aktualisierten Überblick zusammen, wie Parlamente auf die Covid-19-Pandemie reagieren. Das Europäische Zentrum für parlamentarische Forschung und Dokumentation (EZPWD) fungiert als Netzwerk wissenschaftlicher Parlamentsdienste und ermöglicht einen internen Austausch zu praktischen Fragen über Ländergrenzen hinweg. Wie offen der Informationsaustausch abläuft, zeigt sich etwa auch an den von der US-amerikanischen National Conference of State Legislatures (NCSL) betriebenen Webpages: Auf diesen sind Covid-19-bezogene Ressourcen nach Themengebieten für die bundesstaatlichen Gesetzgeber aufbereitet. Gerade in Krisenzeiten, in denen Entscheidungen schnell getroffen werden müssen und für viele Parlamente Neuland betreten wird, ist der Austausch über solche Foren wesentlich.

Demokratiepolitische Fragen

All diese Faktoren öffnen auch den Blick für demokratiepolitische Fragen, die eine Digitalisierung von Parlamenten mit sich bringt. Für Österreich fällt zuallererst auf, dass beim Wegfall eines "zentralen Ortes" (im physischen Sinn) offen ist, wo und wie Publizität demokratischer Prozesse gewährleistet wird. Öffentlichkeit im Plenum besteht bisher durch die Möglichkeit, das Geschehen auf der Besuchergalerie oder durch Live-Übertragungen zu verfolgen. Verlagern sich Debatten und Abstimmungen in den digitalen Raum, braucht es technische Lösungen, die auch eine Teilhabe für die Öffentlichkeit vorsehen. Die Position der Öffentlichkeit scheint also erst einmal eher geschwächt, weil nicht unmittelbar klar bestimmbar ist, wohin sie ihren Blick richten soll.

Anders kann es für die Abgeordneten selbst sein: Ist bisher die Ausübung des Mandats (iSv Anträge einbringen, debattieren und abstimmen) an die physische Anwesenheit im Parlament gebunden, so kann ein virtuelles Parlament im Ergebnis dazu führen, dass sie dezentral, quasi von überall (Internetzugang vorausgesetzt), an Parlamentssitzungen teilnehmen könnten. Dezentrale Prozesse in Zusammenarbeit mit Digitalisierung gehen meist mit einer Machtverschiebung – weg vom Zentrum zu den dezentralen Einheiten – einher. Ein digitales Parlament könnte so gesehen auch den Effekt haben, dass die Funktionsfähigkeit des Parlaments als Ganzes nicht mehr von der Gesamtheit der Abgeordneten am vorgegebenen Ort abhängt, sondern dass Abgeordnete – von der Gesamtheit entkoppelt – eine Handlungsfähigkeit erlangen, die sie ansonsten nur durch ihre Anwesenheit im Hohen Haus aktivieren und ausüben können. Im Vergleich kann sich daher auch zeigen, dass Digitalisierung parlamentarischer Abläufe überall dort leichter gelingen kann, wo schon jetzt die einzelnen Abgeordneten über mehr Autonomie verfügen und die Fraktionsdisziplin eher geringer ausgeprägt ist. (Franziska Bereuter, Christoph Konrath, 6.5.2020)