Weil der Bundeskanzler auf uns vertraut, lockert er gegebenenfalls sogar den Sitz der eigenen Maske: Sebastian Kurz, Ausrufer der "neuen Normalität".

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Langsam fallen die Zwänge, die das Virus uns beschert hat, von uns ab: etwa so wie die engen Polyesterpullover unserer Kindheit. Die knisterten vielversprechend wie das Radio, wenn man dessen Suchknopf auf "Hilversum" drehte. Zumeist hörte man aber in der Radio-Ära Gerd Bachers bloß einheimische Männer sprechen, deren Stimmen bezwingend ruhig waren.

Sie trugen Namen wie "Axel Corti" oder "Heinz Fischer-Karwin". Sie schienen, auch wenn sie über Tiefdruckzonen faselten, ihren Hörerinnen Handküsse anzutragen. Ihre Aussprache war nasal, und wer weiß: Hätten sie die treuesten ihrer Verehrerinnen vor den Radios persönlich gekannt, wären sie einem G‘spusi gegenüber vielleicht nicht abgeneigt gewesen.

Etwas von der einlullenden Kraft eines solchen Sounds besaßen auch die täglichen Verlautbarungen unserer löblichen Bundesregierung. Wo es ihm allenfalls (noch) an Sonorität gebrach, da wusste der Bundeskanzler mit dem Hinweis auf die "neue Normalität" etwaige Unsicherheiten und Sorgen im Nu zu zerstreuen.

Den Laden am Laufen halten

Und in der Tat: Die schöne "neue Normalität" unterscheidet sich bis jetzt von der guten alten allenfalls in Nuancen. Während die Männer in ihren mönchischen Arbeitszellen "Homeoffice" treiben oder eine ausgefallene Hindu-Sprache lernen, sind es meist ihre Gefährtinnen, die den Laden am Laufen halten. Die wohlschmeckende Gerichte zubereiten und darauf schauen, dass die Kinder bei der nächsten "Zoom"-Konferenz mit dem Religionslehrer die Geschichte von den Emmausjüngern möglichst wiedererkennbar nacherzählen.

In der Reformära Kreiskys verhielt es sich kaum anders, nur bedurften meine Eltern dazu gar keiner Pandemie. Mein Vater beherrschte mit seinem Schreibtisch unsere kleine Wohnung. Meine Mutter lebte, wenn die Hausarbeit endlich einmal Pause machte, ihre Hobbys – wie Brotreste-Essen und Axel-Corti-Hören – in der Küche aus. Einmal in der Woche fuhr sie auf die Mariahilfer-Straße, um im Kaufhaus Staffa Stoffe zu gustieren. Diese kleinen Ausflüge mochten ihr vorkommen wie das Durchbrechen von Quarantänebestimmungen. Sie vervollständigten aber bloß die Normalität, die für sie stets die ewig gleiche alte war. (Ronald Pohl, 6.5.2020)