"Oben", "unten" und "seitlich" sind im Weltraum relative Begriffe. Dennoch wird das erst in den 1970er-Jahren entdeckte Ringsystem des Uranus traditionell nicht wie die waagrechte "Hutkrempe" des Saturn dargestellt, sondern annähernd senkrecht. Der Grund dafür ist die gekippte Rotationsachse des Planeten – und die ist ein Indiz dafür, dass Uranus eine schwere Kollision hinter sich hat.
Foto: Lawrence Sromovsky, University of Wisconsin-Madison/W.W. Keck Observatory/NASA

In der Astronomie gilt es heute als sehr plausible Annahme, dass in unserem Sonnensystem ursprünglich mehr Planeten kreisten als die heutigen acht. Und das bezieht sich nicht auf den bürokratischen Akt, mit dem Pluto 2006 von der Internationalen Astronomischen Union auf den neugeschaffenen Status eines Zwergplaneten herabgestuft wurde.

Es geht dabei auch nicht um die einstmals beliebte Hypothese, der Asteroidengürtel zwischen Mars und Jupiter könnte der Überrest eines Planeten sein, der durch einen unbekannten Effekt zerstört wurde. Dieser Gürtel ist zwar riesig und umfasst hunderttausende Objekte. Rechnet man sie alle zusammen, käme man aber nur auf einen Himmelskörper, der vier Prozent der Masse des Erdmonds hätte. Als wahrscheinlichste Erklärung für die Entstehung des Asteroidengürtels gilt heute, dass der Einfluss des Schwerkraftmonsters Jupiter verhindert hat, dass sich in seiner Nähe ein größeres Objekt bildet.

Kreation durch Destruktion

Indizien für "verschwundene" Planeten findet man ganz woanders, nämlich in den weiterhin bestehenden acht Welten und deren Monden. Und das schließt unseren Planeten mit ein: Die heute verbreitetste Theorie zur Entstehung des Erde-Mond-Systems geht davon aus, dass die ursprüngliche Erde vor etwa 4,5 Milliarden Jahren mit einem weiteren, etwa marsgroßen Protoplaneten zusammenstieß.

Das bei der Kollision aufgeschmolzene und verdampfte Material vermischte sich, und ein Teil davon erhöhte die Masse der Erde. Der andere Teil klumpte sich zu einem Mond zusammen, der im Verhältnis zu "seinem" Planeten ungewöhnlich groß ist. Sollte dieser hypothetische Protoplanet, dem man den Namen Theia gegeben hat, aus dem äußeren Sonnensystem eingedrungen sein, wo der Anteil leichter Elemente und flüchtiger Verbindungen höher ist als im inneren, wäre es sogar denkbar, dass er einen großen Teil des heutigen irdischen Wassers mitgebracht hat.

Uranus als zweites Kollisionsopfer

Einen vergleichbaren Prozess haben Forscher der britischen Durham University 2018 für den zweitäußersten Planeten unseres Sonnensystems postuliert, den Eisriesen Uranus. Der hat nämlich – unter anderem – die Besonderheit, dass seine Rotationsachse um knapp 98 Grad geneigt ist. Was zur Folge hat, dass er auf seiner Bahn um die Sonne wie eine Walze dahinrollt.

Als Erklärung dafür bot das Team um Jacob Kegerreis an, dass der Ur-Uranus in der Frühzeit des Sonnensystems einen so heftigen Schlag verpasst bekommen hat, dass er gekippt ist. Er sei mit einem anderen Planeten, vermutlich ebenfalls einer Eiswelt, von doppelter Erdmasse kollidiert und verschmolzen. In einem anderen Sternsystem würde sich ein solcher Brocken als Supererde qualifizieren. (Der Begriff "Supererde" trifft keine Aussage über den Charakter eines Planeten, also ob es sich tatsächlich um einen Gesteinsplaneten wie die Erde handelt; es geht lediglich um die Größe seiner Masse.)

Neue Studie

Diese Hypothese haben nun Forscher des Tokyo Institute of Technology aufgegriffen und vervollständigt, obwohl sie ursprünglich aus einer ganz anderen Richtung kamen. Das Team um Shigeru Ida erstellte nämlich Modelle davon, wie Eiswelten zu ihren Monden kommen. Das erwies sich aber als voll und ganz kompatibel mit den Ergebnissen ihrer britischen Kollegen, wie sie im Fachjournal "Nature Astronomy" berichten.

Auch bei der Kollision von Eiswelten würden gewaltige Mengen an Material verdampfen, ganz wie beim Zusammenstoß von Proto-Erde und Theia. Der entscheidende Unterschied: Zumindest die Proto-Erde war ein Gesteinsplanet mit einem hohen Anteil schwerer Elemente und stabiler Verbindungen. Solche Materialien haben einen hohen Kondensationspunkt. Nach der unvorstellbaren Gewalt des Einschlags und der dadurch erzeugten Hitze hätten sich die Gase also rasch wieder verfestigt – rasch genug, dass die Masse ausreichend konzentriert blieb, um sich wieder zu einem einzelnen Körper zusammenzuballen.

Bildung eines Riesenmonds verhindert

Ganz anders bei den Eisplaneten: Flüchtige Verbindungen wie Wasserdampf hätten eine deutlich längere Abkühlungsphase benötigt, um fest zu werden. Das Material konnte sich viel weiter verteilen, und ein Großteil davon wurde auf Uranus selbst hinuntergezogen, ehe es einen eigenständigen Himmelskörper bilden konnte. Der Rest ballte sich in lokalen Dichtekonzentrationen zu den 27 Uranusmonden zusammen, die wir heute kennen und die allesamt mit dem vergleichsweise monströsen Erdmond nicht mithalten können. Das Verhältnis zwischen der Masse des Uranus und der seiner Monde ist mehr als hundertmal größer als das zwischen Erde und Erdmond.

Ida ist davon überzeugt, dass dieses Modell das heutige Erscheinungsbild des Uranus samt seiner Monde befriedigend erklärt. Und es könne auch auf andere Planeten umgelegt werden. Zusammenstöße von (Proto-)Planeten könnten im frühen Sonnensystem häufig vorgekommen sein und hätten möglicherweise für die Entstehung aller Planeten eine Rolle gespielt. Auf der Suche nach Planet 9 bis X könnte man also am ehesten fündig werden, indem man die physikalischen Eigenschaften der übriggebliebenen acht ganz genau unter die Lupe nimmt.

Dunkle Wanderer

Bleibt noch ein letzter Faktor, nämlich die Frage, ob es Planeten gibt, die unser Sonnensystem inzwischen verlassen haben. Bis sich die heutige Balance einspielte, dürften alle möglichen Himmelskörper – auch Planeten – auf brisanten Bahnen durchs System gezogen sein. Und nicht alle müssen wie Theia auf einen Kollisionskurs geschickt worden sein. Genauso gut können sie aus dem Sonnensystem auch hinausgeschleudert worden sein, wobei erneut der Einfluss des mächtigen Jupiter eine entscheidende Rolle gespielt hätte.

2011 veröffentlichten japanische Forscher eine auf hochgerechneten Microlensing-Beobachtungen basierende Studie, der zufolge Milliarden jupitergroße Planeten unbemerkt durch den interstellaren Raum ziehen würden. Andere Studien kamen auf noch atemberaubendere Zahlen von sogenannten "Einzelgänger-Planeten" unterschiedlichster Größe. Ob auch unser Sonnensystem seinen Beitrag zu dieser Population vagabundierender Planeten geleistet hat – und wenn, in welchem Ausmaß –, wird sich in Ermangelung einer Zeitmaschine aber wohl niemals klären lassen. Und damit auch nicht die Frage, wie viele Planeten das Sonnensystem nun wirklich hervorgebracht hat. (jdo, 11.5.2020)