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Die Leute kommen wieder auf Ideen.

Foto: Getty Images/Martin Dimitrov

Für einsame Herzen waren die letzten Wochen schwer. Während Kleinfamilien sich mit Heimunterricht und Haushaltshölle herumschlugen, saßen Alleinstehende in ihren stillen Kämmerlein und überlegten: Jetzt, wo Barbesuche außer Reichweite sind – wo nimmt man da seinen neuen Cowboy her? Wo trifft man, wie der Hamburger sagen würde, auf seine neue Perle? Schließlich steht ein langer Sommer vor der Tür, ohne gröbere Reiseaktivitäten.

Digitaler Flirt

Viele fürchteten, dass dieser Shutdown endgültig zur Verlagerung all unserer Sehnsüchte ins Internet führen würde. Hatte man nicht schon vor Corona mehrheitlich über Whatsapp, Insta-Messages und Dating-Plattformen geflirtet? Tausend digitale Sicherheitsvorkehrungen durchlaufen, bevor es endlich (wenn überhaupt) zu realem Augenkontakt kam, in Echtzeit und ganz analog? Dazu gesellten sich Trendforscher mit dummen Orakelsprüchen wie: "In Zukunft werden wir Sex-Dates mit Avataren haben." So weit die Theorie.

Mister Zufall

In Wirklichkeit kommen die Leute jetzt wieder auf Ideen. Der Mensch, zumindest der fantasiebegabte, mag den dunklen Wald voller Verbote nicht. Er hält sich an notwendige Regeln. Aber er findet Schlupflöcher. So kommt es, dass Draufgänger – diejenigen unter uns, die schon in der Schule hinten saßen und Klassenbucheinträge kassierten – beim Einkaufen plötzlich schlendern, statt zu gehen.

Das Geschehen im Park, an der Ampel, am Donauufer auf sich wirken lassen, statt sportlich durch Alleen zu keuchen. Kurz: Man sitzt oder steht jetzt einfach mal so herum. Man kommt ins Gespräch – mit Sicherheitsabstand, versteht sich, oft auch mit hübscher Stoffmaske.

Lass dich überraschen

Weil die Gesamtsituation für alle neu ist, denkt man das Ende dieser Zufallsbekanntschaften nicht voraus. Man wartet einfach, was passiert. Und, das ist das Überraschende, es passiert eigentlich immer etwas.

Weil den anderen nach sieben Wochen Quarantäne schon genau so langweilig ist wie einem selbst. Wie zwei Häftlinge auf Freigang lächelt man sich an. Wenn dieser gute Moment noch ein, zwei Atemzüge anhält, beschließt man ... ja, dann wäre vieles möglich: unter Umständen alles.

Ergebnisoffen

Man genießt das Spiel der freien Kräfte unter blauem Himmel – einfach, weil vorher nichts mehr ging. Jetzt darf man wieder, mit Einschränkungen. Das alte Flirten auf Gehsteigen nennt sich heute "Straßen-Tinder". Warum dieses Herantasten auf freier Wildbahn spannender ist als jeder Dating-Algorithmus, erklärte mir gestern mein guter Freund, der Künstler Thomas Draschan, am Telefon: "Beziehungen müssen immer ergebnisoffen sein – mit der Katastrophe im Nacken und dem Paradies vor Augen, nur so läufst du zur Hochform auf." – Man spaziert also am besten wieder, ohne Sinn und Ziel. (Ela Angerer, RONDO, 19.5.2020)