Hitler war schon tot, doch vorbei war es noch längst nicht. Der nationalsozialistische Diktator hatte vor seinem Suizid am 30. April im Tiefbunker der Alten Reichskanzlei in Berlin ein "politisches Testament" aufgesetzt und darin seinen Nachfolger bestimmt: Großadmiral Karl Dönitz, der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, sollte als "Reichspräsident" die Geschicke des Staates und der Wehrmacht lenken.

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Der Berliner Reichstag war für die Rote Armee ein Schlüsselsymbol des nationalsozialistischen Deutschland. Die erbitterten Kämpfe um das schwer beschädigte Gebäude dauerten bis 2. Mai 1945.
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Dönitz hatte bis weit ins Frühjahr hinein noch daran geglaubt, eine Wende im Seekrieg herbeiführen zu können, und fanatische Durchhalteappelle an seine Offiziere ausgegeben. Er war der letzte ranghohe Militär, dem Hitler noch vertraute. Als er sich am 1. Mai 1945 in einer Rundfunkansprache an die Bevölkerung wandte und Hitlers feigen Suizid zum "Heldentod" umdichtete, schwor er, ganz nach Goebbels’scher Manier, die "Volksgemeinschaft" darauf ein, weiter durchzuhalten. Der Kampf gegen den "vordrängenden bolschewistischen Feind" müsse weitergehen, so Dönitz. "Wenn wir tun, was in unseren Kräften steht, wird auch der Herrgott nach so viel Leid und Opfern uns nicht verlassen."

Acht Tage im Mai

Was sich in der letzten Woche des Zweiten Weltkriegs in Europa abspielte, schildert der deutsche Historiker Volker Ullrich eindrucksvoll in seinem neuen Buch Acht Tage im Mai. Tag für Tag zeichnet er den Zusammenbruch des NS-Regimes nach beleuchtet das wahnwitzige Ende der Terrorherrschaft, die noch im Untergang fanatisch auf Tod und Zerstörung setzte. Der Blick richtet sich dabei auf die letzten Machthaber und ihre Gefolgschaft ebenso wie auf die Befreiung der Konzentrationslager, auf Shoah-Überlebende, Kriegsgefangene und die Zivilbevölkerung.

"Die Todesmärsche der KZ-Häftlinge kreuzten sich mit zurückflutenden Wehrmachtseinheiten und Flüchtlingstrecks, die Kolonnen der Kriegsgefangenen mit denen befreiter Zwangsarbeiter und heimkehrender Ausgebombter. Alliierte Beobachter sprachen von einer regelrechten Völkerwanderung", schreibt Ullrich. Vielerorts wurden unmittelbar vor Eintreffen der alliierten Truppen noch NS-Verbrechen begangenen. Suizide enttäuschter Nazis standen auf der Tagesordnung.

Durch den Rückgriff auf zahlreiche Briefe und Tagebucheinträge von Zeitzeugen entsteht ein schonungsloses Panorama dieser Maiwoche, in der das Morden und Sterben noch weiterging, obwohl längst alles entschieden war, und an deren Ende schließlich die Befreiung stand, die von außen kommen musste – und die von so vielen Deutschen und Österreichern als beschämende Niederlage empfunden wurde.

Plötzlich überall NS-Gegner

Der Schriftsteller und NS-Gegner Erich Kästner hielt am 7. Mai 1945 in seinem Tagebuch fest: "Leute laufen betreten durch die Straßen. Die kurze Pause im Geschichtsunterricht macht sie nervös. Die Lücke zwischen dem Nichtmehr und dem Nochnicht irritiert sie." Schnell übte man sich aber in einer neuen Rolle, in der sich die Nachkriegsgesellschaften auf Jahrzehnte gefallen sollten: Der Mythos der verbreiteten Gegnerschaft zum Nationalsozialismus wurde geboren. Dokumente und Parteiabzeichen wurden vernichtet, Hakenkreuzfahnen und Hitler-Porträts verschwanden, Uniformen wurden verbrannt.

"Wie weit wird nun der Mantel nach dem Wind gedreht, wie weit darf man trauen?", fragte sich der Literaturwissenschafter Victor Klemperer, der in seinen Tagebüchern die Verfolgung der deutschen Juden von 1933 bis 1945 dokumentiert hatte und selbst nur knapp der Deportation entgangen war. "Jetzt ist jeder hier immer Feind der Partei gewesen. Aber wenn sie es wirklich immer gewesen wären ..."

Volker Ullrich, "Acht Tage im Mai. Die letzte Woche des Dritten Reiches" . € 24,70 / 317 Seiten. C. H. Beck, München 2020

Cover: C. H. Beck

Wissenschaftliche Karrieren

Viele drehten ihren Mantel mit großem Erfolg nach dem Wind. Wernher von Braun etwa, der Raketenforscher und SS-Mann, der als technischer Direktor der Heeresversuchsanstalt Peenemünde die Entwicklung der V2 mitverantwortet hatte. Diese Rakete musste von Zwangsarbeitern unter unmenschlichen Bedingungen gefertigt werden, durch ihren Einsatz bei Angriffen auf London und Antwerpen wurden tausende Zivilisten getötet. Von Braun stellte sich am 2. Mai 1945 den Amerikanern – und bot ihnen seine Dienste an.

Er habe nie damit gerechnet, als Kriegsverbrecher behandelt zu werden, sagte er später. "Die V2 war etwas, das wir hatten und sie nicht. Natürlich wollten sie alles darüber wissen." In den USA sollte von Braun zum Nasa-Experten aufsteigen und als "Vater der Mondlandung" gefeiert werden. "Mein Land hat zwei Weltkriege verloren", sagte von Braun nach seiner Ankunft in den USA. "Diesmal möchte ich auf der Seite der Sieger stehen." Er war nur einer von fast 650 deutschen und österreichischen Wissenschaftern und Technikern, die im Zuge der Geheimoperationen "Overcast" und "Paperclip" in die Vereinigten Staaten gebracht wurden und dort teils steile Karrieren hinlegten.

Am 8. Mai 1945 trat die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht in Kraft. Karl Dönitz, das letzte Staatsoberhaupt NS-Deutschlands, schrieb eine Woche später: "Die wahre Volksgemeinschaft, die der Nationalsozialismus geschaffen hat, muß erhalten werden; der Wahnsinn der Parteien wie vor 1933 darf nicht wieder Platz greifen." Er wurde am 23. Mai 1945 mit der "geschäftsführenden Reichsregierung", die noch zwei Wochen lang ohne reale Machtbefugnisse "weiterregiert" hatte, verhaftet. Der NS-Staat war am Ende. (David Rennert, 7.5.2020)