In diesen Tagen ist es die Gesundheitsbehörde, und damit Chefepidemiologe Anders Tegnell, der Schwedens Strategie gegen Covid-19 anführt. Um den 64-Jährigen ist ein regelrechter Kult entstanden, es gibt T-Shirts, Fanklubs in sozialen Medien und Oberarme, auf denen sein Gesicht als Tattoo prangt.

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Stockholm – Noch immer herrscht über den "schwedischen Weg" in Sachen Coronavirus-Bekämpfung Einigkeit in dem skandinavischen Land: Mehr als 70 Prozent der Schwedinnen und Schweden tragen die Maßnahmen der Regierung mit, die im internationalen Vergleich doch eher ungewöhnlich sind: Setzt die Mehrheit der Staaten auf Verbote und starke Einschränkungen, vertraut die rot-grüne Minderheitsregierung in Stockholm auf die Vernunft der Bevölkerung. Restaurants, Bars, Geschäfte und Schulen blieben weitgehend geöffnet, Versammlungen bis 50 Personen erlaubt – wenn auch unter Einhaltung des Sicherheitsabstands. Schwedens oberster Epidemiologe Anders Tegnell gilt als Architekt der Strategie und warnte von Beginn an vor den psychischen und physischen Auswirkungen, die eine Isolation unter Quarantäne haben könnte.

Tegnell sagte in einer Pressekonferenz Ende März, dass sich 98 Prozent der Schweden an die gesetzten Maßnahmen halten würden – der Weg der Regierung funktioniere. Doch nun zeigt auch er sich selbstkritisch. Im US-Fernsehen gab er zu, dass man nicht mit so hohen Todeszahlen gerechnet habe – auch wenn Premierminister Stefan Löfven von den Sozialdemokraten bereits Anfang April verkündet hatte, dass man mit tausenden Toten rechnen müsse. Bis jetzt sind es 2.941 Menschen, die in der schwedischen Covid-19-Todesstatistik aufscheinen, und damit fast dreimal mehr als in den anderen nordischen Ländern wie Dänemark (506), Finnland (246) und Norwegen (215) zusammen. Zwar variiert, wann ein Toter in die Statistik aufgenommen wird, doch bleibt der Unterschied auch unter Berücksichtigung dessen zwischen den Staaten enorm.

Aushilfskräfte bei Altenpflege

Viele Todesopfer gab es vor allem in Altenheimen und unter Pflegebedürftigen. Im Zusammenhang damit steht die Organisation der Altenbetreuung im Land in der Kritik – vor allem der Einsatz von Aushilfskräften auf Stundenbasis. Weil diese eine nicht sehr große soziale Absicherung in ihrem Job haben, erscheinen sie vielfach zur Arbeit, obwohl sie sich vielleicht kränklich fühlen. Laut dem schwedischen Rundfunk waren im Vorjahr fast ein Viertel aller Altenbetreuer im Raum Stockholm derartige Aushilfskräfte, im heurigen März sogar 40 Prozent. Viele von ihnen klagten auch über fehlende Schutzausrüstung – woraufhin in den schwedischen Medien eine Diskussion ob zu großer Entscheidungsspielräume entbrannte. Offenbar waren einige Arbeitgeber diesbezüglich überfordert und hätten klare Ansagen gebraucht.

Dass die Bevölkerung weiter hinter der Regierung steht, hat mit der großen Zustimmung zu tun, die die Schweden ihr entgegenbringen: 72 Prozent der Bevölkerung vertrauen ihr – im EU-Raum ist der Wert nur in den Niederlanden höher. Das ergab eine Umfrage der Europäischen Kommission im Jahr 2017.

Ohne Parlamentszustimmung

Auch die Opposition trägt den Kurs weitgehend mit und stattete die Regierung Mitte April mit Sonderrechten aus. So kann diese im Notfall Maßnahmen ohne die Zustimmung des Parlaments setzen – aber nur, wenn es sich zeitlich nicht mehr anders ausgehen würde. Immerhin haben die Abgeordneten das Recht, solche Entscheidungen zu annullieren, wenn sie sich als unnötig erweisen. Die Sonderrechte gelten vorerst bis Ende Juni. (bbl, 6.5.2020)