Lisz Hirn, scharfzüngige Kritikerin überkommener Heldenrollen, über eine Gesellschaft im Ausnahmezustand.

Foto: Heribert Corn

In Zeiten der Pandemie wächst der Politik eine doppelt heikle Aufgabe zu. Nicht nur müssen die Spitzenvertreter des Staates die Bevölkerung auf Maß- und Abstandhalten einschwören. Mit jeder neuen Verordnung setzt ein verdecktes Werben um Zustimmung ein: Auch minder angenehme Handlungsanleitungen werden so lange luftdicht sprachverpackt, bis sie hochvernünftig und grundgütig erscheinen.

Von "Neuer Normalität" bis "Team Austria" lehrt das Quarantäne-Regime: Mit dem Schielen nach Akzeptanz geht häufig genug die Auflösung von Bedeutungsgehalten einher. Begriffe werden aus der Sphäre des alltäglichen Vernunftgebrauchs herausgepickt und durch die Gebetsmühlen der Verlautbarer gedreht – bis sie ihre Unschuld verloren haben.

Wir baten die heimische Philosophin Lisz Hirn um ein paar ausgewählte Wortuntersuchungen: Was meinen die da oben, wenn sie uns ihre Maßnahmen "zu unserem Besten" verpflichtend nahelegen? Keine Überraschung: Hirn, zuletzt mit dem Buch Wer braucht Superhelden (Molden-Verlag) als spitzzüngige Kritikerin kultureller Stereotype hervorgetreten, entdeckt im Wust der Phrasen mehrfach Beispiele für die Geschlechterdisparität.

Neue Normalität: "Diese österreichische Begriffschimäre entwickelte sich während der Covid-19-Pandemie im Frühjahr 2020 zum politischen Kriseneuphemismus: Ausnahmezustand war gestern, 'neue Normalität' ist heute. Und in dieser gibt es exorbitant hohe Zahlen an Arbeitslosen, an Menschen in Kurzarbeit, die unbestimmte Aussetzung der Reisefreiheit, den Mund-Nasen-Schutz im öffentlichen Raum und das Misstrauen gegenüber den anderen als potenzielle Virusträger. Normalität bedeutet per definitionem das, was selbstverständlich ist und keiner Rechtfertigung bedarf. In unserem Fall heißt das, dass es die gewohnten Ungerechtigkeiten weiter gibt (normal), nur dass sie durch Corona verschärft werden (neu)."

Team Österreich: "Einer für alle und alle für einen? Die erfolgreiche Bewältigung von Katastrophen hängt wesentlich davon ab, wie stark die Bindung der betroffenen Gruppe ist. Wir, das ist das 'Team Österreich' (Bundeskanzler), spielen wie die anderen Ländergruppen um niedrige Fallzahlen und unser Comeback. Während des Wettkampfs müssen alle schnell und effizient funktionieren, nach Spielende löst sich das Team rasch auf. Dann sind nicht nur 'alle in Österreich lebenden Menschen' (Grüne), sondern auch die 'Österreicherinnen und Österreicher' (ÖVP) wieder auf sich allein gestellt."

Spreading: "Kein neues Wort im eigentlichen Sinne, sondern seit 2014 fixer Bestandteil von Diskussionen rund um den öffentlichen Nahverkehr. Dort referiert 'Spreading' auf das Verhalten von Männern, an öffentlichen Orten mit gespreizter Beinhaltung zu sitzen. 2019 popularisierten die Wiener Linien den Begriff im Kampf gegen das ungeliebte Phänomen unter anderem mit Social-Media-Postings wie 'Sei ein Ehrenmann und halt deine Beine zam!'. Um ein aktuelles Corona-'Spreading' zu verhindern, müssen aber nicht nur die Männer ihre Körperhaltung in Bus, Bim, Bahn verändern, sondern beide Geschlechter das Gesicht verhüllen. 'Maske auf, sonst zahl ma drauf!'"

Systemrelevant: "Das 'Too big to fail' der Finanzkrise von 2008 wurde zum 'Too precarious to quit!' während der Covid-19-Pandemie. Als ,systemrelevant‘ werden die Berufe bezeichnet, die so eine bedeutende Rolle in einem Staat spielen, dass ihr Ausfall unter keinen Umständen hingenommen werden kann. Die Tätigkeit dieser Berufsgruppen muss um jeden Preis aufrechterhalten werden. Das trifft seit Corona neben ausländischen 24-Stunden-Pflegekräften auch heimische Supermarktverkäuferinnen, deren neuentdeckte Systemrelevanz von der Politik offiziell mit Applaus und dem Sonderrecht quittiert wurde, das Haus verlassen zu dürfen."

Homeschooling: "Hausunterricht galt ursprünglich als Bildungsprivileg von Kindern aus 'gutem Hause'. In jüngster Vergangenheit bekam der Begriff eine negative Konnotation. Unterricht zu Hause schienen nur die Erziehungsberechtigten dem staatlichen Bildungskanon vorzuziehen, die ihre Kinder gezielt abschotten wollten. Vom Privileg über den Bildungssonderling zum verordneten 'Homeschooling' in der Corona-Isolation: Der Hausunterricht hat eine lange wechselhafte Geschichte hinter sich. Derzeit bestreitet ihn ein Heer an Ersatzpädagoginnen (Männer mitgemeint), die in den letzten Wochen nicht nur an die Grenzen ihrer Belastbarkeit, sondern auch an die des viel gerühmten digitalen Lernens gestoßen sind."

Ein-Meter-Abstandsregel: "Eine Armlänge Abstand halten? Unmöglich, ja, lächerlich, hieß es von allen Seiten, als Kölns Oberbürgermeisterin diese Verhaltensempfehlung nach den sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht 2016 in Köln gab. Weder könnten Frauen noch würden Männer diese Verhaltensregel je umsetzen. Was von der Mehrheit zu MeToo-Zeiten spöttisch abgelehnt wurde, lässt sich doch umsetzen, wenn sich neben den Frauen plötzlich auch die Männer fürchten müssen. Fraglich nur, welcher Erreger auf Dauer gefährlicher ist."

Empfehlung: "Kommt man ohne lobende Beurteilung im Leben nicht sehr weit, so auch nicht ohne handlungsleitende Ratschläge. Während der virusbedingten Beschränkungen gab es eine Vielzahl an Verhaltensempfehlungen. Diesen 'Empfehlungen' des Gesetzgebers haftete etwas Unbedingtes an. Zwar kann man einen Ratschlag befolgen oder nicht, doch wenn auf den Rat der Schlag folgt, zeigt sich, dass jeder Empfehlung ein aggressives, ja autoritäres Moment innewohnt. Waren diese Empfehlungen etwa doch als Verbote und nicht nur als nachdrückliche Bitten zu verstehen?" (Ronald Pohl, 8.5.2020)