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In den letzten Wochen haben Großmütter ihre Enkerln nicht viel gehabt.

Foto: Getty Images/Martine Doucet

Mein Herz klopfte wie verrückt, meine Hände zitterten, als ich am Bahnsteig am Wiener Hauptbahnhof stand und auf sie wartete. Alle paar Minuten musste ich tief durchatmen, um nicht umzukippen. Meine fünfmonatige Tochter war mit ihrer Mama ein paar Tage länger bei der Familie in Vorarlberg geblieben. Was, wenn sie mich nicht mehr kennt, oder noch schlimmer, nicht mehr mag?

Alle Sorgen verflogen, als sie beim Aussteigen grinste, in meine Arme hüpfte, auf Züge zeigte und mir (wahrscheinlich) erklärte, was die hier so tun. Ich war noch nie so verliebt – nicht bei der Geburt, nicht als ich sie das erste Mal hielt, nicht in den ersten Wochen zusammen und noch nie in ein anderes Mädchen. Meiner Tochter ging es ähnlich, nur nicht an diesem Tag und nur nicht wegen mir.

Was ich am Bahnsteig in mir spürte, konnte ich ein paar Monate später von außen sehen. Die Oma aus Vorarlberg kam zu Besuch. Schon bei der Wohnungstüre, als die Aufzugstür aufging und sie ausstieg, ging es los. Mit weit aufgerissenen Augen und Mund konnte meine Tochter ihr Glück nicht fassen. Während die Oma beim Wiedersehen vor Freude kicherte, wurde die Kleine ganz still, streckte die Arme aus und lächelte selig, für die nächsten drei Stunden. Die zwei kannten sich also auch noch, und offensichtlich ist der Kleinen aufgefallen, was sie an ihrer Oma hat.

Wickelsüchtig

Mir ist das auch aufgefallen. Ein Kind, zwei Eltern, 24 Stunden, zwei Jobs – das geht sich nicht aus. Ich bin davon überzeugt, dass der Betreuungsschlüssel falsch ist. Wie Alleinerzieherinnen oder Alleinerzieher das hinkriegen, kann ich mir nicht einmal vorstellen. Da hat die Natur (wieso braucht es nicht vier Menschen zur Fortpflanzung, die sich dann alle ums Kind kümmern?), unsere Gesellschaft (wo sind die Stämme und Großfamilien hin?) oder ich (wieso habe ich kein Haus neben der Familie gebaut?) was falsch gemacht.

Kritik an der Natur, an der Gesellschaft oder an mir bringt wenig, wir ändern uns zu langsam. Deshalb schiebe ich‘s auf meine Freundin: Wenn sie nicht zum Studieren nach Wien gezogen wäre, würde ihre Mama und mein Kind jetzt nicht so weit voneinander entfernt wohnen, und beide wären jeden Tag so glücklich. Auch wenn sie dann wohl nicht meine Tochter wäre.

Die Oma müsste nicht mehr sechs Stunden zu einer Hochzeit von unseren Freuden nach Waidhofen an der Ybbs fahren, sich ein eigenes Hotelzimmer nehmen und die ganze Nacht auf die Kleine aufpassen, während wir die Hochzeit genießen. Die Oma könnte jedes Wickeln übernehmen, danach ist sie süchtig. Meine Freundin und ich zögern das Saubermachen trotz voller Windel schon einmal ein wenig hinaus. Die Oma klatscht bei Gestank vor Freude in die Hände, packt das Mädel und stürmt zum Wickeltisch – aus der Ferne hört man die beiden kichern.

Sie könnte jeden Tag irgendwas komisches Vorarlbergerisches ("Bäckle Bäckle dütsch" oder so) sagen und die Köpfe zusammendütschen. Sie könnten sich aufgeregt über Blümchen unterhalten, während ich erst ein paar Worte der Kleinen verstehe. Sie könnten jeden Tag Ausflüge machen und ganze Wochenenden zusammen verbringen, damit meine Freundin und ich mal Pause haben. Sie könnten jeden Tag zusammen schlafen gehen und die Oma könnte neben ihr auf einer Matratze am Boden schlafen. Nicht weil die Kleine es noch braucht, nur weil sie es beide so mögen.

Die vor Wochen geplante Reise nach Vorarlberg haben wir wegen Corona verschoben. Heute werden sich die beiden nach Monaten wieder persönlich sehen. Dann wird meine Tochter wieder so verliebt sein wie ich damals am Bahnsteig. Und weil dann Muttertag ist, werde ich der Mutter der Mutter meines Kindes nochmal vielen Dank für alles sagen. Aber das werden die beiden wohl nicht mitbekommen, sie haben sich sicher viel zu viel von den vergangenen Wochen zu erzählen.

Peter Sim ist Journalist bei "Dossier". Statt Parteifinanzen, Geldwäsche, Inserate und Waffenhersteller investigiert er derzeit seine einjährige Tochter in der Väterkarenz. Er lebt bei ihr wie einst Hunter S. Thompson bei den Hells Angels. Seine Berichte lesen Sie ab jetzt jeden zweiten Sonntag online im STANDARD, sein Karenztagebuch auf Twitter.
Foto: Peter Sim