Die Lüge gehört zur Sucht wie der Ablass zur Sünde.

Foto: Philipp Traun

"Guten Morgen Herr Traun, wie geht es Ihnen?", sagt die Damen in Weiß und öffnet meinen Akt. "Mir geht es blendend", lüge ich mit einer Selbstverständlichkeit, als würde ich der Ärztin vorfabeln wollen, ich wäre gerade einem Drachenblutvollbad entstiegen. Natürlich ist mir klar, dass man mich durchschaut. Es gibt wahrscheinlich wenige Orte, wo die Dichte an lügenden Menschen höher ist, als hier.

Die Lüge gehört zur Sucht wie der Ablass zur Sünde. "Ich hab doch während meines Ausgangs keinen Alkohol getrunken", beschwört der Patient, nachdem das Kontrollgerät einen Piepser macht, als wäre Harald Juhnke persönlich zur Alkoholtestung aus seinem Grab gestiegen. "Das muss das Desinfektionsmittel beim Zahnarzt gewesen sein", nachdem der kleinlaut gewordene Patient mit dem Rücken zur Wand steht.

"Aber Herr Doktor, ich und Drogen?", nachdem der Harntest einen Amphetaminwert ausspuckt, der jeden Tour-de-France-Profi erbleichen lassen würde. "Brauchen Sie irgendetwas?", fragt die Dame in Weiß weiter. "Nein danke", lüge ich weiter. In Wahrheit brauche ich ein neues Leben.

"Sehr gut Herr Traun, sehr gut", sagt die Dame in Weiß und klappt meinen Akt zu. Die allmorgendliche Kleinvisite verlässt das Zimmer. Triumphierend ziehe ich mich in meine Isolation zurück, denn man gewährt mir offenbar Bedenkzeit. (Philipp Traun, 9.5.2020)