Kaum einer hat im österreichischen Sport so umgerührt wie Peter Kleinmann. Der Wiener, den sie "Mister Volleyball" nennen, war als Spieler, Trainer und Klubmanager insgesamt 20-mal Meister und 16 Jahre lang Verbandspräsident. Man hat ihn oft aufgeregt erlebt, manchmal auch außer sich. Doch so empört wie aktuell war Kleinmann (72) selten. Auslöser ist Bildungsminister Heinz Faßmanns (ÖVP) Entscheidung, Bewegung und Sport auszuklammern, wenn in wenigen Tagen der Unterricht an Österreichs Schulen wiederaufgenommen wird.

Peter Kleinmann ist außer sich: "Bei uns werden die Kinder eingesperrt."
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Kleinmann hat dafür "keine Erklärung" und "null Verständnis", Faßmann könne nur "völlig falsch beraten" sein. "Epidemiologische Gründe", die das Bildungsministerium anführt, lässt er ebenso wenig gelten wie das Argument, dass die großen Turnsäle für die Betreuung von Schülerinnen und Schülern benötigt werden. "Die Kinder sollen ja sowieso ins Freie", sagt Kleinmann. "Sie können auf den Sportplatz gehen, wenn einer vorhanden ist, aber auch in den Schulhof oder einfach auf den Gehsteig."

Durch die Klassenteilung sei die Anzahl der Personen so gering, dass sich locker die nötigen Abstände und sonstigen Regeln einhalten lassen. Kleinmann: "Dabei müssen die Kinder nicht einmal ins Schwitzen oder Keuchen kommen, sie müssen sich auch nicht unbedingt umziehen. Sie haben Spaß, sie sind nicht eingesperrt, sie bewegen sich, und dann rechnen sie auch besser."

Vom Purzelbaum zum Kopfrechnen

Damit unterstreicht Kleinmann, was kürzlich der renommierte Sportmediziner Paul Haber angeführt hatte. "Kinder, die einen Purzelbaum beherrschen, können auch besser Kopfrechnen." Kleinmann zitiert eine Studie unter Schülern in Nordamerika und Schweden. Da habe man bei einem Teil der Schüler einige Mathematik- durch Bewegungseinheiten ersetzt. "Herausgekommen ist, dass diejenigen, die mehr Sport hatten, auch besser in Mathematik waren."

In Österreich darf bis Sommer allein an Leistungssportschulen und Bundessportakademien gesportelt werden. Dänemark hingegen ist kürzlich dazu übergegangen, Unterrichtsstunden nach Möglichkeit generell ins Freie zu verlegen, wo das Infektionsrisiko weitaus niedriger ist als in geschlossenen Räumen. "Aber bei uns werden die Kinder eingesperrt", sagt Kleinmann. "Das ist gesetzlich vorgeschriebene Körperverletzung. Die bringen unsere Kinder um."

Der Sportfunktionär, der in den Vorständen des Österreichischen Olympischen Comités (ÖOC) und des europäischen Volleyballverbands sitzt, sieht Österreich im europäischen Hintertreffen. "Nur fünfzig Prozent der Österreicherinnen und Österreicher kommen auf das nötige Minimum an Bewegung. Aber dreißig Prozent unserer Volksschulkinder sind fettleibig oder adipös." Aus einer WHO-Studie im Vorjahr ging hervor, dass 71,2 Prozent von Österreichs Buben und sogar 84,5 Prozent der Mädchen körperlich zu wenig aktiv sind.

Mehr Zeit vor Bildschirmen, weniger Zeit in Bewegung

Diesen Trend, davon gehen Experten aus, hat die Corona-Krise verstärkt. Kinder und Jugendliche verbringen mehr Zeit vor Bildschirmen und weniger Zeit in Bewegung – nicht zuletzt, weil auch viele Sportvereine speziell in Teamsportarten ihren Betrieb nach wie vor nicht aufnehmen konnten. Im Gegensatz zu deutschen Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen (knapp 18 Millionen Einwohner), das auch im Breiten- und Nachwuchssport "die Ausübung von Sportarten auch mit unvermeidbarem Körperkontakt" bereits ab Ende Mai wieder ermöglichen will, bleibt Österreichs Regierung trotz positiver Entwicklungen vorsichtig.

Peter Kleinmann fühlt sich "als Bürger der Republik Österreich von der Regierung gut durch die Corona-Krise geleitet". Doch im Hinblick auf Bewegung von Kindern und Jugendlichen benotet er die Verantwortlichen mit "Nicht genügend, setzen!".

Bereits 2012 – nicht zuletzt infolge einer österreichischen Nullnummer bei den Olympischen Spielen in London – hatte Kleinmann unter dem Titel "Tägliche Turnstunde" gefordert, Schülerinnen und Schüler regelmäßig zu bewegen. Er schaffte es, dass alle 183 Nationalratsabgeordneten die Forderung unterschrieben, und dennoch ließ und lässt die bundesweite Umsetzung auf sich warten. "Dass die Kinder stundenlang in Schulen sitzen, ohne sich zu bewegen", sagt Kleinmann, "ist ein Anschlag auf ihre physische und psychische Gesundheit."

"Der Sport wird wie eine heiße Kartoffel hin und her geschupft"

Dabei ist das Anliegen, Kinder und Jugendliche zu bewegen, ein fast historisches. Hierzulande war die Forderung schon quasi 100 Jahre vor Kleinmann erhoben worden, nämlich nach den Olympischen Spielen 1912 in Stockholm, wo Österreich ohne Goldmedaille geblieben war. Wieso sich die Zeiten diesbezüglich kaum geändert haben? Kleinmann: "Der Sport wird wie eine heiße Kartoffel hin und her geschupft, er ist ein ewiges Stiefkind. Neun Ressorts waren schon für ihn zuständig, weil er halt überall hineinspielt, in den Tourismus, generell in die Wirtschaft, in die Gesundheit, in die Bildung, in die Landesverteidigung, in die Integration."

Bis zum Sommer haben Österreichs Schülerinnen und Schüler etwa 15 Tage Unterricht und, so ihre Eltern darauf zurückgreifen, ebenso viele Tage Betreuung vor sich. Kommt es da wirklich auf den Sport an? "Kommt es da wirklich auf Deutsch, Lesen und Mathematik an?", fragt Kleinmann zurück.

Vor allem werde es darauf ankommen, dass die Kinder und Jugendlichen ihre Lehrerinnen und Lehrer und einander wieder sehen. Dass sie in ihr soziales Umfeld zurückkehren, Spaß miteinander haben. Sport und Bewegungseinheiten hätten dazu beitragen können. Was sich Peter Kleinmann jetzt wünscht? "Dass der Bundeskanzler den Sport zur Chefsache erklärt und auf die richtigen Experten hört. Denn die Experten, auf die Faßmann gehört hat, waren die falschen." (Fritz Neumann, 8.5.2020)